Geschichte des Westens
Selbsteinschätzung lag die tiefere Ursache der Krise des Nationalstaates in Ostmittel- und Südosteuropa der Zwischenkriegszeit. Wer nicht zur Titularnation gehörte, war, was immer in den Minderheitenschutzverträgen stand, weniger «gleich» als die Angehörigen der hegemonialen oder staatstragenden Nation. Die Übernahme des westlichen Prinzips der demokratischen Mehrheitsentscheidung war von Anfang an mit der Gefahr der Diskriminierung der nationalen Minderheiten verbunden. Um sich in den neuen Nationalstaaten bewähren zu können, mußte dieses Prinzip eingeschränkt und der Schutz der nationalen Minderheiten majorisierungsfest gemacht werden. Daß es die neuen Staaten fast alle an dieser Einsicht in mehr oder minder hohem Maß fehlen ließen, belastete die Entwicklung der Demokratie in den meisten von ihnen.
So konnte es denn auch nur auf den ersten Blick so scheinen, als sei aus dem Ersten Weltkrieg
die
Welt hervorgegangen, von der die äußerste Linke in den Revolutionen von 1848/49 geträumt hatte: Die «Völkerkerker» waren beseitigt, unter ihnen auch die Vormacht der europäischen Reaktion, das Zarenreich; es gab in fast ganz Europa freie, demokratisch verfaßte Nationalstaaten und über ihnen einen Völkerbund, bei dessen Entstehung die Idee des Selbstbestimmungsrechts der Völker Pate gestanden hatte. Doch nur ein Teil der Linken vermochte in dem kommunistischen Regime, das im November 1917 in Rußland an die Macht gelangt war, ein fortschrittliches oder gar freiheitliches System zu erkennen. Ein anderer Teil tat, mitunter im Bund mit konservativen Kräften, alles, um eine Ausbreitung des Sowjetkommunismus nachWesten zu verhindern, und handelte sich so denselben Vorwurf ein, den 1848 die gemäßigten Liberalen auf sich gezogen hatten: den des Verrats an der Revolution. Ob in den Nachfolgestaaten des osmanischen, des habsburgischen und des russischen Vielvölkerreiches die Freiheit auf sicheren Grundlagen beruhte, daran gab es bereits 1919/20 starke Zweifel, und deshalb war auch ungewiß, ob diese Staaten zu verläßlichen Stützen einer weltumspannenden Friedensordnung werden konnten, wie sie seiner Charta zufolge der Völkerbund anstrebte.
Einer der Väter der Völkerbundsakte, der südafrikanische General und Politiker Jan Christiaan Smuts, seit 1917 einer der Vertreter der Dominions im neugeschaffenen Imperial War Cabinet, hatte ursprünglich vorgeschlagen, die neuen Nationalstaaten Ostmittel- und Südosteuropas zunächst als Mandatsgebiete des Völkerbunds ins Leben zu rufen: eine Konstruktion, die die Souveränität der neuen Staaten massiv eingeschränkt hätte und darum von diesen energisch zurückgewiesen wurde. Angewandt wurde der Mandatsgedanke hingegen, ganz im Sinne von Smuts, auf die arabischen Gebiete des Osmanischen Reiches und die ehemaligen deutschen Kolonien.
Der Gedanke des Völkerbundsmandats war auch ein Zugeständnis an die starke antikolonialistische Strömung in den USA, der Wilson freilich in Paris, aus Rücksicht auf seine europäischen Verbündeten wie aus persönlichem Desinteresse, nur widerwillig Rechnung getragen hatte. Wenn der Völkerbund eines seiner Mitglieder mit der Vormundschaft (tutelage) über ein abhängiges Gebiet betraute, mochte das als eine mildere Form des Kolonialismus und Imperialismus erscheinen als der Kolonialstatus «pur et simple». Im Prinzip war das Mandat als Durchgangsstadium zu späterer Unabhängigkeit gedacht. Realistisch war diese Aussicht zunächst nur bei der ersten der drei Kategorien, in die die betroffenen Gebiete eingeteilt wurden, der Kategorie A. Zu dieser gehörten die arabischen Gebiete des untergegangenen Osmanischen Reiches, von denen drei, Irak, Transjordanien und Palästina, Großbritannien und zwei weitere, Syrien und Libanon, Frankreich als Mandatar erhielten. Mandatsgebiete der Kategorie A galten als so entwickelt, daß die Gewährung der Unabhängigkeit relativ bald zu erwarten war. Als erstes Gebiet dieser Kategorie wurde der Irak, seit 1921 ein Königreich unter Faisal I., dem Sohn des Scherifen von Mekka, Hussein Ibn Ali, im Oktober 1932 in die Selbständigkeit entlassen.
In die Kategorie B, bei der der Zeitpunkt der Unabhängigkeit noch völlig unbestimmt war, fielen, mit der Ausnahme von Deutsch-Südwestafrika, die früheren afrikanischen Kolonien des Deutschen Reiches. Togo und Kamerun wurden zwischen Großbritannien und Frankreich aufgeteilt. Von Deutsch-Ostafrika fiel die Hauptmasse an Großbritannien; Belgien
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