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Geschichte des Westens

Geschichte des Westens

Titel: Geschichte des Westens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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Bartel und schließlich im März 1930 Slawek. Er selbst blieb Kriegsminister und auch in dieser Funktion die beherrschende Persönlichkeit des Regimes. Zu seinen schärfsten Kontrahenten wurde der neugewählte Sejmmarschall, der Sozialist Ignacy Daszynski. Als Bedrohung empfand der «starke Mann» der Regierung die zunehmend intensivere parlamentarische Zusammenarbeit der Linken und der Mittelparteien, die im Oktober 1929 ein reguläres Bündnis, «Centrolew» oder «Zentrumslinke» genannt, eingingen. Pilsudski reagierte darauf mit heftigen verbalen Attacken auf das Parlament und die oppositionellen Parlamentarier, flankiert von massiven Einschüchterungsversuchen.
    Nach dem Sturz der Regierung Switalski durch ein Mißtrauensvotum am 5. Dezember 1929 spitzte sich der Machtkampf zwischen Exekutive und Legislative immer mehr zu. Im Juni 1930 fand ein Kongreß der oppositionellen Kräfte in Krakau statt, dem im September weitere Kundgebungen für die Freiheit und gegen die Diktatur in ganz Polen folgen sollten. Am 25. August übernahm Pilsudski wieder selbst das Amt des Ministerpräsidenten. Vier Tage später löste Staatspräsident Moocicki das Parlament auf. Anfang Oktober ließ Pilsudski 18 seiner parlamentarischen Widersacher, darunter Witos, einige Abgeordnete der ukrainischen Minderheit und prominente Sozialisten, verhaften, die anschließend in der Festung Brest-Litowsk mißhandelt und gedemütigt wurden.
    Die Parlamentswahlen vom 17. und 23. September 1930 waren schon nicht mehr frei. Sie fanden in einem Klima der politischen Einschüchterung und der militärischen Willkür statt und erbrachten ein Ergebnis, das weitgehend den Wünschen der Regierung entsprach: Mit 243 von 444 Mandaten verfügte der Regierungsblock im Sejm über eine sichere Mehrheit; die «Centrolew» und die nationalen Minderheiten mußten schwere Verluste hinnehmen. Noch eindeutiger fiel die gouvernementale Mehrheit im Senat aus. Eine verfassungsändernde Zweidrittelmehrheit erreichte die Regierung allerdings nicht, so daß an die rasche Verabschiedung einer neuen Verfassung, wie Pilsudski sie erstrebte, vorerst nicht zu denken war. Seit Dezember 1930 begnügte sich der Marschall wieder mit dem Amt des Kriegsministers; das Amt des Ministerpräsidenten überließ er, wie in den Jahren zuvor, von ihm ausgesuchten Vertrauensmännern, durchweg Obersten der Armee.
    Die Regierungen der Obristen versuchten mit Notverordnungen und einschneidenden Sparmaßnahmen der Weltwirtschaftskrise Herr zu werden, die inzwischen auch Polen voll erfaßt hatte. Nach Massenstreiks, die die PPS seit Februar 1932 in den wichtigsten Industriegebieten organisierte, wurden die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit sowie die richterliche Unabhängigkeit eingeschränkt. Am 23. März 1933 (dem gleichen Tag, an dem etwas ganz Ähnliches im Deutschland Adolf Hitlers geschah) verabschiedete der Sejm ein Ermächtigungsgesetz, das der Regierung die Vollmacht gab, nicht nur Verordnungen, sondern auch Dekrete mit Gesetzeskraft zu erlassen, was auf eine weitgehende Selbstausschaltung des Parlaments hinauslief.
    Polen befand sich seit dem Herbst 1930 in der zweiten Phase seinerautoritären Transformation, die von ihren Befürwortern als «sanacja» (Sanierung) bezeichnet wurde, aber durchaus eine Diktatur genannt zu werden verdient. Es gab zwar immer noch eine relativ freie Presse, eine Vielzahl von Parteien und einen gewissen Schutz der individuellen Freiheiten, aber von einer durch freie Wahlen legitimierten Staatsführung konnte keine Rede mehr sein. Der entscheidende Machtfaktor war das Militär, das Parlament führte spätestens seit dem Ermächtigungsgesetz vom März 1933 nur noch ein Schattendasein. An diesem Zustand änderte auch die Verfassung vom 23. April 1935 nichts, die dem autoritären Präsidialstaat eine neue Rechtsgrundlage verschaffte. Knapp drei Wochen später, am 12. Mai, starb im Alter von 67 Jahren der Mann, der mehr als jeder andere zur Wiedererrichtung eines selbständigen Polen beigetragen hatte, aber auch wie kein zweiter verantwortlich war für die fortschreitende Einschränkung der innenpolitischen Freiheit: der Erste Marschall von Polen, Józef Pilsudski.
    Wie Polen war sein nordöstlicher Nachbar Litauen ein Agrarland mit ganz überwiegend katholischer Bevölkerung. Im April 1919 war Antanas Smetona, ein Publizist der nationalen Rechten, zum Staatspräsidenten gewählt worden. Aus den Wahlen zur Verfassunggebenden Versammlung gingen

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