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Geschichte des Westens

Geschichte des Westens

Titel: Geschichte des Westens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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belastet durch das fortwirkende Schisma zwischen Rom und Byzanz. Was seine innere Entwicklung anging, verlief sie aber ähnlich krisenreich wie die der meisten ostmitteleuropäischen und südosteuropäischen Staaten.
    Die äußeren Umrisse des wiedererstandenen Polen lagen bereits fest, als am 5. und 12. November 1922 die zweiten Wahlen zum Sejm stattfanden. Wie bei den vorangegangenen Wahlen vom Januar 1919 gab es auch diesmal keine klaren Mehrheitsverhältnisse: Die Linke, zu der man außer den Sozialisten auch die Bauernpartei Wyzwolenie rechnen mußte, verlor in beträchtlichem Maß an Stimmen, während die Rechte in Gestalt der Nationaldemokraten und zweier kleinerer Parteien kräftig zulegte. Die früheren Mittelparteien waren stark geschrumpft. Nur wenn die nationalen Minderheiten mitwirkten, auf die etwa ein Fünftel der Sitze entfiel, konnten Mehrheiten für eine Regierung zustande kommen.
    Zunächst stand die Wahl eines Staatspräsidenten durch beide Häuser des Parlaments, Senat und Sejm, an. Pilsudski, der bisherige Staatschef, lehnte eine Kandidatur ab, weil die Verfassung vom 17. März 1921 dem Staatsoberhaupt nur geringe Befugnisse einräumte und er nicht von seinen Gegnern, den Nationaldemokraten, abhängig werden wollte. Die Wahl fiel am 9. Dezember 1922 im fünften Wahlgang auf einen Abgeordneten von Wyzwolenie, Professor Gabryel Naturowicz. Daß er nur mit Hilfe nichtpolnischer und nicht zuletzt jüdischer Abgeordneter ins Amt gelangt war, löste eine heftige antisemitische Hetze der Rechten aus und kostete ihn das Leben: Er wurde am 16. Dezember, eine Woche nach seiner Wahl, von einem fanatischen Anhängerder Nationaldemokraten durch Revolverschüsse ermordet. Zu seinem Nachfolger wählten die beiden Kammern am 20. Dezember Stanislaw Wojciechowski, einen Mann von schwachem politischen Profil aus der rechten Bauernpartei, der bis Mai 1926 im Amt blieb und als ehemaliger Sozialist freundschaftliche Beziehungen zu Pilsudski unterhielt. Eine parlamentarische Mehrheit für einen Ministerpräsidenten aber fand sich nicht, so daß der Präsident («Marschall») des Sejm schließlich am 17. Dezember den General Wladyslaw Sikorski mit der Bildung eines kleinen überparteilichen Beamtenkabinetts beauftragte, das dann rund fünf Monate lang vom Sejm toleriert wurde.
    Am 28. Mai 1923 gelang dem Führer der rechten Bauernpartei Piast, Wincenty Witos, der 1921/22 schon einmal Ministerpräsident gewesen war, die Bildung eines Mitte-Rechts-Kabinetts. Pilsudski nahm das zum Anlaß, auch seine Ämter als Generalstabschef und Vorsitzender des Engeren Kriegsrats niederzulegen und sich auf sein Landgut bei Sulejówek zurückzuziehen. Mit dem zweiten Kabinett Witos begann die Zeit der parlamentarischen Vorherrschaft, die bis zum Militärputsch Pilsudskis vom Mai 1926 dauern sollte. In diesen drei Jahren, in denen die Regierungen, durchweg Beamtenkabinette, noch dreimal wechselten, standen innenpolitische Probleme im Vordergrund des öffentlichen Interesses: die Bekämpfung der Inflation, die Agrar- und die Nationalitätenfrage.
    Die Stabilisierung der Währung gelang unter der Regierung des Finanzexperten Wladyslaw Grabski. Im April 1924 wurde der (ursprünglich auf Parität mit dem Schweizer Franken festgelegte) Zloty eingeführt, über dessen Kaufkraft und Wechselkurs die im Prinzip unabhängige Bank Polski zu wachen hatte. Eine durchgreifende Agrarreform fand hingegen nicht statt, da der polnische Großgrundbesitz in der starken Rechten einen wirkungsvollen Verteidiger seiner Interessen besaß. Land abgeben mußten nach dem Inkrafttreten der Bodenreform vom Dezember 1925 im wesentlichen nur deutsche Grundbesitzer in den Westgebieten, was aber für die Schaffung eines breiten bäuerlichen Mittelbesitzes nicht ausreichte. Die polnische Landwirtschaft war weiterhin geprägt vom Gegensatz zwischen extensiv wirtschaftendem, auch für den Export produzierenden Großgrundbesitz und der Subsistenzwirtschaft nicht rentabler kleinbäuerlicher Höfe. Polen blieb in der Zwischenkriegszeit ein nur schwach industrialisiertes Agrarland mit dem typischen Problem ostmitteleuropäischer Gesellschaften: derdurch Realteilung bedingten Besitzzersplitterung und ländlichen Überbevölkerung.
    Den nichtpolnischen Minderheiten gewährte die Verfassung von 1921 volle Gleichberechtigung. Tatsächlich sah die Rechte in den parlamentarischen Vertretern der nationalen Minderheiten, gleichviel ob es Deutsche, Juden oder Litauer

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