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Geschichte des Westens

Geschichte des Westens

Titel: Geschichte des Westens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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Wincenty Witos am 5. Mai 1926, nutzte Pilsudski, um zum entscheidenden Schlag auszuholen. Am 12. Mai besetzte er an der Spitze von 15 Regimentern den Warschauer StadtteilPraga auf dem rechten Weichselufer. Zwei Tage dauerten die heftigen Kämpfe mit den Regierungstruppen. Den Ausschlag für den Sieg des Marschalls gab die Partei, die er einst geführt, von der er sich aber längst innerlich gelöst hatte: die Sozialistische Partei Polens (PPS). Sie rief einen Generalstreik aus und verhinderte so den Transport regierungstreuer Truppen in die Hauptstadt. In der Nacht vom 14. zum 15. Mai traten Staatspräsident Wojciechowski und Ministerpräsident Witos zurück. Die letzten Kämpfe beschloß Pilsudski am 22. Mai 1926 mit einem Appell zur Versöhnung, in dem er dem Patriotismus der Unterlegenen seine Reverenz erwies.
    Mit dem Militärputsch vom Mai 1926 begann die erste, vier Jahre währende Phase des autoritären Regimes Józef Pilsudskis. Der Marschall regierte zu Beginn dieser «moralischen Diktatur» zunächst nicht selbst; er ließ regieren. Das Amt des Ministerpräsidenten übertrug der Sejm-Marschall auf Betreiben Pilsudskis dem Mathematikprofessor Kazimierz Bartel, dem Vorsitzenden der kleinen Fraktion der Arbeiterpartei. Pilsudski selbst übernahm im neuen Kabinett das Amt des Kriegsministers. Als Senat und Sejm ihn am 31. Mai mit Zweidrittelmehrheit zum Staatspräsidenten wählten, lehnte er, wie schon vier Jahre zuvor, die Annahme des protokollarisch höchsten Staatsamtes ab und sorgte dafür, daß statt seiner der Chemieprofessor Ignacy Mozcicki gewählt wurde. Durch eine Verfassungsnovelle vom 2. August 1926, die mit Hilfe der Rechten verabschiedet wurde, erhielt der Präsident die Vollmacht, das Parlament aufzulösen und in der Vakanz zwischen den Sessionen Dekrete mit Gesetzeskraft zu erlassen, die unter dem Vorbehalt einer späteren Genehmigung durch das Parlament standen. Außerdem durfte die Regierung, wenn das Parlament den Haushalt nicht rechtzeitig verabschiedete, Ausgaben im Rahmen des vorangegangenen Budgets tätigen.
    Die Macht hatte Pilsudski auf revolutionäre Weise, im Stil eines spanischen «pronunciamiento», übernommen. Die Verfassungsänderungen vom August 1926 waren als solche nicht revolutionär. Die Notstandsvollmachten des Präsidenten gingen nicht über die Befugnisse des deutschen Reichspräsidenten nach Artikel 48 der Weimarer Reichsverfassung hinaus. Die Klausel über den Nothaushalt fiel nicht aus dem Rahmen des in parlamentarischen Demokratien Üblichen heraus. Das Parlament wurde nicht aufgelöst, die Opposition nicht unterdrückt, die Presse nicht zensiert. Der gewaltsam herbeigeführte Regimewechselbewirkte eine innenpolitische Stabilisierung, die anfangs mehr die Züge einer konservativen Demokratie als die einer Militärdiktatur trug – von einer «faschistischen» Diktatur, die Pilsudski verabscheute, ganz zu schweigen.
    Im Oktober 1926 übernahm der Marschall dann doch selbst das Amt des Ministerpräsidenten. Er bildete ein überwiegend konservatives Kabinett, was zu einer Entfremdung zwischen Pilsudski und der PPS führte. Der Abstand zu seiner einstigen politischen Heimat vergrößerte sich, als Pilsudski, der selbst aus dem niederen Adel stammte, Ende Oktober 1926 durch einen Besuch auf dem Schloß der Radziwills demonstrativ seine Nähe zum östlichen Landadel unterstrich. Die hartnäckigsten Gegner des Marschalls waren aber weiterhin die Nationaldemokraten um Roman Dmowski und die Piast um Wincenty Witos. Um sich eine einigende parlamentarische Basis zu verschaffen, ließ Pilsudski rechtzeitig vor den Wahlen zum Sejm und Senat im März 1928 durch den ihm treu ergebenen Oberst Walery Slawek einen Parteilosen Block der Zusammenarbeit mit der Regierung (BBWR) bilden, der zwar über kein fest umrissenes Programm verfügte, unter Bauern und städtischen Mittelschichten aber zahlreiche Anhänger gewann.
    Aus den Wahlen von 1928 ging der BBWR mit 122 von 444 Mandaten als stärkste Fraktion hervor. Dramatische Verluste mußten die Nationaldemokraten und Piast hinnehmen, während die Parteien der Linken, auf die insgesamt etwa 140 Sitze entfielen, starke Gewinne verbuchen konnten. Da die Zusammensetzung des Sejm keine feste Mehrheit für die Regierung verbürgte, überließ Pilsudski das Amt des Ministerpräsidenten persönlichen und politischen Vertrauten, zunächst Kazimierz Bartel, dann dem bisherigen Unterrichtsminister Kazimierz Switalski, danach erneut

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