Geschichte des Westens
waren, keine vollwertigen Volksvertreter. Im Fall der Ukrainer und Weißruthenen gab es Ansätze einer Assimilierungspolitik, die aber dadurch erschwert wurde, daß im östlichen Galizien eine starke antipolnische Bewegung entstand, die 1922 mit einigem Erfolg die Wahlen boykottierte. Die Juden wurden von den Nationaldemokraten und den anderen Rechtsparteien, auch der Piast, mit notorischem Mißtrauen betrachtet und nach Kräften diskriminiert, die Deutschen im Gebiet um Posen und den Pomerellen an der unteren Weichsel zur Abwanderung nach Deutschland gedrängt. (Über die Hälfte der dort lebenden Deutschen, rund eine halbe Million Menschen, tat diesen Schritt.) In keiner der Regierungen der Zwischenkriegszeit gab es einen Minister aus den Reihen der nationalen Minderheiten, und für die höchsten regionalen Verwaltungsposten, den Wojewoden, und, auf Kreisebene, den Starost, galt dasselbe. Die polnische Politik orientierte sich am Ziel des homogenen Nationalstaates westlicher Prägung – einem Ziel, das mit der tatsächlichen ethnischen Vielfalt eines Nationalitätenstaates nicht zusammenpaßte.
Für die polnische Außenpolitik war die Anlehnung an Frankreich grundlegend, mit dem Warschau im Februar 1921 einen Bündnisvertrag und ein geheimes Militärabkommen abgeschlossen hatte. Hinzu kamen ein Bündnisvertrag mit Rumänien vom März 1921 und Freundschaftsverträge mit Lettland und Estland vom März 1922, die alle eine antisowjetische Stoßrichtung hatten. Ein entsprechendes Abkommen mit Finnland wurde vom Parlament in Helsinki nicht ratifiziert. Umgekehrt fand eine im November 1921 von den beiden Außenministern unterzeichnete Konvention mit der Tschechoslowakei über eine begrenzte Zusammenarbeit beider Länder im Sejm keine Mehrheit. Im April 1925 wurde dann doch ein Abkommen mit Prag über Fragen des strittigen Teschener Gebiets ratifiziert, das aber weit hinter der gescheiterten Vereinbarung von 1921 zurückblieb.
Gespannt blieb nach der Annexion des Gebiets um Wilna im März 1922 das Verhältnis zu Litauen, zu dem keine diplomatischen Beziehungen bestanden. Zu Deutschland gab es solche Beziehungen, abersie verbürgten noch längst keine zwischenstaatliche Normalität. Das Deutsche Reich war nicht bereit, sich mit dem Verlust seiner nunmehr polnischen Ostgebiete, obenan Westpreußen und das südliche Oberschlesien, abzufinden; es stellte die Legitimität des östlichen Nachbarstaates mehr oder minder ausdrücklich in Frage und begann im Juni 1925 mit einem Handelskrieg gegen Polen, unter dem besonders die Freie Stadt Danzig zu leiden hatte. Polen baute seinerseits systematisch als Konkurrenz für Danzig den Hafen Gdingen (Gdynia) aus. Eine Wende zum Besseren war, was das deutsch-polnische Verhältnis betraf, Mitte der zwanziger Jahre nicht abzusehen. Wenn es für das immer noch tiefkatholische Polen einen gewissen Ausgleich für die fehlende Anerkennung seines territorialen Besitzstandes durch den großen Nachbarn im Westen gab, war es das Konkordat vom Februar 1925: Darin ordnete der Vatikan die katholischen Bistümer neu, und zwar entsprechend den Staatsgrenzen der Nachkriegszeit.
Von einer kontinuierlichen Regierungsarbeit konnte angesichts der Gegensätze zwischen den Parteien und der häufigen Kabinettswechsel in den Jahren nach 1918 nicht die Rede sein. Meist waren es persönliche Intrigen und parteitaktische Manöver, die zum Sturz der einen und zur Einsetzung einer anderen Regierung führten. Am 13. November 1925 versuchte Pilsudski Präsident Wojciechowski in einem persönlichen Gespräch für eine Eindämmung des parlamentarischen Systems zu gewinnen, konnte aber die verfassungsrechtlichen Bedenken des Staatsoberhaupts nicht entkräften. Zwei Tage später deutete der Marschall in einer Rede vor Legionsoffizieren an, daß er künftig nicht nur mit Worten gegen diejenigen vorgehen werde, die nach seiner Ansicht «den Staat kraftlos machten und die strafende Hand der Gerechtigkeit aufhielten».
Einen Verbündeten fand Pilsudski in General Zeligowski, dessen Ernennung zum Kriegsminister im Kabinett des Grafen Skrzynski er im November 1925 hatte durchsetzen können. Zeligowski half Pilsudski bei der militärischen Vorbereitung des nunmehr fest geplanten Putsches, indem er Regimenter sammelte, die dem Marschall treu ergeben waren. Eine weitere Regierungskrise, ausgelöst durch den Rücktritt Skrzynskis und die Bildung eines von der Linken heftig bekämpften Mitte-Rechts-Kabinetts unter
Weitere Kostenlose Bücher