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Geschichte des Westens

Geschichte des Westens

Titel: Geschichte des Westens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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Saeima, dem Parlament, gewählt; er war Oberbefehlshaber der Armee und konnte Notverordnungen erlassen, nicht aber das Parlament auflösen. In beiden Staaten wurde die Volksvertretung nach dem Verhältniswahlrecht gewählt; wie in Litauen besaßen Männer und Frauen das aktive und passive Wahlrecht. Der anfänglichen Zersplitterung folgte eine Konzentration auf drei Lager: eine Bauernpartei, eine bürgerliche Mittelpartei und die Sozialdemokraten. Am stärksten waren in Estland wie in Lettland die Bauernparteien; aus ihnen gingen die beiden wichtigsten Führer der Zwischenkriegszeit hervor: der estnische Minister- und spätere Staatspräsident Konstantin Päts und der lettische Staats- und Ministerpräsident Karlis Ulmanis. Die Kommunistische Partei wurde in Lettland als Reaktion auf den Bürgerkrieg 1920 verboten; in Estland erging ein entsprechendes Verbot Ende 1924 nach der Niederschlagung eines kommunistischen Umsturzversuchs durch General Johan Laidoner, den Helden des Freiheitskampfes und Oberbefehlshaber der estnischen Truppen.
    Reine Nationalstaaten waren beide Länder nicht. Die zweitstärkste ethnische Gruppe waren die Russen mit einem Bevölkerungsanteil von 10,6 Prozent in Lettland im Jahr 1934 und 8,2 Prozent in Estland im Jahr 1935. Die Deutschen hatten um dieselbe Zeit in Lettland einen Bevölkerungsanteil von 3,2 Prozent und in Estland von 1,5 Prozent. Nur in Estland gelang, wovon im Zusammenhang mit den Minderheitenschutzverträgen schon die Rede war, eine weithin als vorbildlich betrachtete Lösung der Nationalitätenfrage: der Ausgleich von 1925. Er gewährte den nichtestnischen Volksgruppen, wenn sie sich dies wünschten, volle Kulturautonomie – ein Recht, von dem die deutsche wie die jüdische Minderheit Gebrauch machte. Lettland hingegen betrieb seit 1930 eine Politik der «Lettisierung», die zu starken Spannungen mit der deutschen Minderheit führte.
    Estland und Lettland waren die einzigen ostmitteleuropäischen Staaten, die eine radikale Agrarreform durchführten. In beiden Ländern wurde der meist deutschbaltische Großgrundbesitz enteignet;etwa zwei Drittel der landwirtschaftlich genutzten Fläche wurde an bäuerliche Neusiedler verteilt; Waldbesitz ging in Staatseigentum über. In Estland erhielten die bisherigen Großgrundbesitzer, wenn sie an der Landzuweisung teilnahmen, etwa 3,6 Prozent ihres Besitzes zurück; 1926 wurde ihnen eine Entschädigung in Höhe von etwa 3 Prozent des tatsächlichen Besitzwertes gewährt, später auch in Form einer Zuweisung von Restgütern bis zu 50 Hektar. In Lettland gab es keine Entschädigung, wohl aber konnten die bisherigen Herren Restgüter von höchstens 50 Hektar behalten. Beide Staaten blieben ganz überwiegend agrarisch geprägt; der Anteil der in der Industrie beschäftigten Personen an der erwerbstätigen Bevölkerung belief sich in Estland um 1930 auf 17,4, in Lettland auf 13,5 Prozent.
    Wie die meisten ostmitteleuropäischen Staaten erlebten auch Estland wie Lettland unter dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise schwere Staatskrisen, die zur Abwendung von der parlamentarischen Demokratie und zur Errichtung autoritärer Regime führten. In Lettland verlief dieser Prozeß wesentlich radikaler als in Estland. Im Mai 1934 schaltete Ministerpräsident Ulmanis durch einen Staatsstreich die äußerste Rechte und die äußerste Linke aus. Die Verfassung wurde aufgehoben, die Tätigkeit von Parlament und Parteien sistiert, eine Regierung aus Vertretern der gemäßigten Parteien gebildet und die Gesetzgebungsbefugnis auf die Exekutive übertragen. Im April 1936 übernahm Ulmanis zusätzlich zum Amt des Ministerpräsidenten auch das des Staatspräsidenten.
    In Estland hatte sich die Regierung des starken Drucks einer rechtsradikalen antiparlamentarischen Bewegung, des Verbandes der Freiheitskämpfer, kurz «Vapsen» genannt, zu erwehren, der sich an faschistischen Vorbildern und namentlich an dem der noch zu erörternden finnischen Lapua-Bewegung orientierte. Eine von der «Vapsen» angestrengte Volksabstimmung über eine Verfassungsreform, die das parlamentarische durch ein Präsidialsystem ersetzte, war mit fast 73 Prozent Ja-Stimmen höchst erfolgreich. Den Nutzen aus den Verfassungsänderungen von 1933 zog aber Ministerpräsident Päts. Er übernahm die neuen außerordentlichen Befugnisse des Staatsoberhaupts, verhängte, um einen rechtsradikalen Staatschef zu verhindern, den Ausnahmezustand, übertrug den Oberbefehl an General

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