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Geschichte des Westens

Geschichte des Westens

Titel: Geschichte des Westens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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ein Jahr später, im April 1920, die Christlichen Demokraten als Sieger hervor. Sie erhielten mit 59 von 112 Sitzen die absolute Mehrheit; 29 entfielen auf die Volkssozialisten, 14 auf die Sozialdemokraten, 9 auf die nationalen Minderheiten. (Die Juden stellten mit 7,5 Prozent der Bevölkerung die stärkste Nationalität; die Polen kamen nach der litauischen Volkszählung von 1923 auf mindestens 3,25, die Deutschen auf 1,5 Prozent.) Die völkisch-nationalistische Partei Tautininkai brachte keinen Kandidaten durch. Die Kommunistische Partei war verboten.
    Regierung und Parlament nahmen ihren Sitz in der provisorischen Hauptstadt Kaunas. Die Verfassung vom 1. August 1922 sah einen Präsidenten mit überwiegend repräsentativen Aufgaben vor. Er verfügte aber über ein suspensives Veto gegen Gesetze, sofern diese vom Seimas, dem Einkammerparlament, nicht mit Zweidrittelmehrheit angenommen worden waren, und über das Recht, das Parlament aufzulösen. Als Hauptstadt bestimmte die Verfassung Wilna (litauisch Vilnius), das aber im März 1922 mitsamt dem umliegenden Gebiet durch einen einseitigen Akt Warschaus in den polnischen Staat eingegliedertworden war. Die Wilna-Frage stand einer Normalisierung des Verhältnisses zu Polen dauerhaft entgegen; sie übte eine geradezu traumatisierende Wirkung auf die litauische Politik der Zwischenkriegszeit aus.
    Der Wunsch nach einer Kompensation für den Verlust des von Polen annektierten Gebiets spielte auch eine Rolle, als litauische Truppen am 10. Januar 1923, einen Tag vor der französischen Ruhrbesetzung, das Memelland, das nach dem Inkrafttreten des Vertrags von Versailles einem interalliierten Kondominium mit einem französischen Oberkommissar unterstellt worden war, besetzten. In dem bislang zu Deutschland gehörenden Gebiet überwog nach der Volkszählung von 1910 die Zahl der deutschsprachigen Bewohner knapp die der litauischsprachigen (71.000 gegenüber 67.000). Eine Botschafterkonferenz der Alliierten übertrug die Souveränität über das Memelgebiet im Februar 1923 an Litauen, knüpfte daran aber zwei Bedingungen: die Gewährung eines Autonomiestatus und der polnischen Mitbenutzung des Hafens von Memel (Klaipeda). Die zweite Forderung erfüllte Litauen wegen des Streits um Wilna nicht, der ersteren trug es durch die Memelkonvention vom 8. Mai 1924 zwischen Litauen und den Alliierten Rechnung.
    Das Memelgebiet erhielt dadurch einen eigenen Landtag und in Gestalt eines fünfköpfigen Landesdirektoriums eine eigene Regierung. Obwohl die ersten Landtagswahlen vom Oktober 1925 den deutschen Parteien eine überwältigende Mehrheit brachten (sie stellten 27 von 29 Abgeordneten), wurden durch den vom litauischen Präsidenten berufenen Gouverneur zehn Jahre lang gegen den Willen des Landtags nur Litauer, die von außerhalb der Region kamen, an die Spitze des Landesdirektoriums gestellt. Das Verhältnis zu Deutschland wurde dadurch nachhaltig belastet. Doch es gab einen wichtigen Unterschied zum Konflikt mit Polen: Zwischen Kaunas und Berlin bestanden diplomatische Beziehungen, zwischen Kaunas und Warschau nicht.
    Die Besetzung des Memelgebiets fiel in eine Zeit innenpolitischer Instabilität: Bei den Wahlen vom Oktober 1922 hatten die Christlichen Demokraten ihre absolute Mehrheit eingebüßt; sie eroberten sie erst im Mai 1923 nach einer Parlamentsauflösung durch Präsident Stulginskis zurück. Das wichtigste innenpolitische Vorhaben der zwanziger Jahre war die Agrarreform, die angesichts der bäuerlichen Prägung des Landes eine vergleichsweise geringe Brisanz besaß. Ein Gesetz vom April 1922 sah für den kirchlichen, adligen oder sonstigenprivaten Landbesitz, sofern er über 80 Hektar hinausging, eine Enteignung gegen Entschädigung vor. 1928 wurde die Obergrenze auf 150 Hektar angehoben. Nutznießer der Umverteilung waren in der ersten Phase landlose oder landarme Kleinbauern, in der zweiten auch Kommunen und gemeinnützige Einrichtungen. Die betroffenen Großgrundbesitzer waren meist Polen oder Russen, so daß die Eingriffe in die überkommenen Eigentumsverhältnisse neben der sozialen auch eine ethnische Dimension hatten: Sie dienten der Stärkung des Litauertums. Im Mai 1926 fanden erneut Parlamentswahlen statt, an denen erstmals auch die Memelländer teilnehmen konnten. Die Sieger waren diesmal die Linksparteien: Die Volkssozialisten kamen auf 22, die Sozialdemokraten auf 15 und damit zusammen auf 37 von insgesamt nunmehr 85 Sitzen; die Christlichen

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