Geschichte des Westens
Demokraten erhielten nur noch 30 Mandate. Mit Hilfe der jüdischen und der polnischen Abgeordneten wurden zwei Volkssozialisten in die höchsten Ämter gewählt: Mykolas Slezevicius als Staatspräsident und Kazys Grinius als Ministerpräsident.
Die Linksregierung stieß, unter anderem wegen eines im September 1926 abgeschlossenen Nichtangriffspaktes mit der Sowjetunion, auf schärfste Opposition der Christlichen Demokraten, der völkischen Tautininkai, die erstmals mit 5 Abgeordneten im Seimas vertreten waren, und, am gefährlichsten, des Militärs. Am 17. Dezember 1926 putschte General Povilas Plechavicius, offenbar angeregt von Pilsudskis Coup vom Mai. Das Parlament wurde besetzt, die Regierung abgesetzt, das Amt des Staatspräsidenten an Antanas Smetona, das des Ministerpräsidenten an den früheren Regierungschef Augustinas Voldemaras, den Vorsitzenden der radikal nationalistischen Vereinigung Gelezinis Vilkas, übertragen. Der letztere bildete eine Regierung aus Christlichen Demokraten und Tautininkai. Vier Monate später, am 12. April 1927, löste Präsident Smetona den Seimas auf, ohne gleichzeitig Neuwahlen auszuschreiben. Damit begann eine neunjährige autoritäre Herrschaft, während derer es in Litauen keinerlei gewähltes Parlament mehr gab.
Gestützt auf die Armee, baute Smetona in der Folgezeit seine Machtstellung immer weiter aus. Eine neue Verfassung, die am 15. Mai 1928 verkündet wurde, konzentrierte alle Staatsgewalt beim Präsidenten. Im September 1929 löste Smetona, der sich als «Führer der Nation» feiern ließ, Ministerpräsident Voldemaras ab und ersetzte ihndurch seinen Schwager Juozas Tubelis. Nach einem mißglückten Militärputsch vom Juni 1934 und einem Bauernstreik vom Sommer 1935 zog das Regime die Zügel noch schärfer an. Die Oppositionsparteien mußten im Februar 1936 ihre Tätigkeit auf Grund eines neuen Vereinsgesetzes einstellen; die Wahlen vom Juni 1936, die ersten seit 1926, waren so organisiert, daß nur noch Tautininkai Abgeordnete stellen konnte. Das Einparteienparlament verabschiedete am 11. Februar 1938 eine autoritäre Verfassung, die ein parlamentarisch verbrämtes Präsidialregime vorsah und die Pflichten der Bürger sehr viel stärker betonte als ihre Rechte. Der Staat verpflichtete sich zwar, die Gewissens- und die Religionsfreiheit zu schützen, von Meinungs-, Versammlungs- und Pressefreiheit aber war keine Rede.
Praktische Auswirkungen hatte die Verfassung nicht mehr. Einen Monat nach ihrer Verabschiedung erzwang Polen durch ein Ultimatum die Aufnahme diplomatischer Beziehungen und die Anerkennung der bestehenden Grenze, also den Verzicht auf Wilna und seine Umgebung. Parlamentswahlen nach dem Verhältniswahlrecht, wie die Verfassung sie vorsah, sollte Litauen nicht mehr erleben.
Wie die Litauer gehörten auch die Letten zu den Völkern der baltischen Sprachfamilie, denen ebenfalls die ausgelöschten oder in den Ostpreußen aufgegangenen Pruzzen zuzurechnen waren. Die 1918/19 entstandene Republik Lettland umfaßte mit Lettgallen, Kurland und dem südlichen Livland Gebiete, die bis zum Untergang des Zarenreiches russischer Herrschaft unterworfen waren. Der nördliche Nachbar Lettlands, die Republik Estland, umschloß die ehedem russische Provinz gleichen Namens und die nördlichen vier Kreise Livlands. Die Esten gehörten wie die Finnen zur finnisch-ugrischen Sprachfamilie. Anders als Litauen, das katholisch blieb, waren Estland, Livland und Kurland seit der Reformationszeit evangelisch-lutherisch geprägt (was sich auch darin äußerte, daß fast die gesamte Bevölkerung des Lesens und Schreibens kundig war). Die Oberschicht bestand aus Deutschbalten; fast der gesamte Großgrundbesitz war in der Hand deutschbaltischer Adliger. Seit dem späten 19. Jahrhundert wurden Estland, Livland und Kurland, seit 1918 Estland und Lettland unter dem Begriff Baltikum zusammengefaßt; Litauen wurde erst später, verstärkt seit den dreißiger Jahren, dieser Ländergruppe zugeschlagen. Einen Beitrag zum neuen Sprachgebrauch leistete die «Baltische Entente», dieentstand, als Litauen am 12. September 1934 einem bereits 1923 abgeschlossenen lettisch-estnischen Bündnis beitrat.
Die Verfassungen Estlands und Lettlands vom Juni 1920 beziehungsweise Februar 1922 gaben dem Parlament mehr Macht als der Regierung. Estland kannte keinen Staatspräsidenten; der Ministerpräsident fungierte zugleich als Staatsoberhaupt. In Lettland wurde der Staatspräsident von der
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