Geschichte des Westens
française, blieb bedeutungslos.
Der Wahlsieg des Kartells machte die Position Millerands unhaltbar. Er hatte die Überparteilichkeit mißachtet, zu der ihn sein Amt verpflichtete, und mußte dafür einen hohen Preis bezahlen: Am 11. Juni kam er der Rücktrittsforderung der Linken nach. Zu seinem Nachfolger wurde zwei Tage später mit Unterstützung Poincarés der Senatspräsident Gaston Doumergue, ein Politiker des rechten Flügels der Radicaux, zum neuen Präsidenten der Republik gewählt. Unmittelbar danach beauftragte Doumergue Herriot mit der Regierungsbildung.
Der langjährige Bürgermeister von Lyon und Professor der Literaturwissenschaft hätte gern auch Sozialisten in sein Kabinett aufgenommen. Aber diese hatten sich schon im April 1919 auf ihrem ersten Nachkriegsparteitag in Paris gegen jedwede Beteiligung an einer Koalitionsregierung ausgesprochen. Das Nein zu einer derartigen Teilhabe an der «bürgerlichen» Macht ergab sich aus dem 1919 bekräftigten Bekenntnis zum proletarischen Klassenkampf. An diesem Credo hielt die SFIO unter der Führung von Léon Blum schon deshalb fest, weil jede Abweichung die Gefahr der Parteispaltung hervorgerufen hätte: Der linke Flügel wäre in diesem Fall von der Gründung einer linkssozialistischen Partei oder einem Anschluß an die Kommunistenvermutlich nicht mehr abzuhalten gewesen. Das Höchstmaß der Zusammenarbeit mit fortschrittlichen bürgerlichen Kräften war daher die parlamentarische Unterstützung einer Regierung der Radicaux, und eben dazu erklärte sich die SFIO im Juni 1924 bereit.
Der Machtwechsel von 1924 bedeutete vor allem eine außenpolitische Zäsur. Herriot, in Personalunion Ministerpräsident und Außenminister, konnte sich der Zustimmung der Sozialisten sicher sein, als er, entsprechend den Vorabsprachen, die er Ende Juni 1924 mit dem britischen Premierminister Ramsay MacDonald in Chequers getroffen hatte, auf der Londoner Reparationskonferenz vom Juli und August 1924 dem Dawes-Plan und der Räumung des Ruhrgebiets innerhalb eines Jahres zustimmte. Irgendwelche Sicherheitsgarantien der angelsächsischen Mächte erhielt Frankreich nicht, auch keine Anerkennung des von Paris betonten Zusammenhangs zwischen deutschen Reparationen und interalliierten Kriegsschulden. Aber angesichts der Schwäche des Franc und der daraus resultierenden Abhängigkeit von britischem und amerikanischem Wohlwollen hätte auch eine «nationalere» Regierung als die Herriots sich einen Konflikt mit London und Washington kaum leisten können. Die Ruhrbesetzung hatte sich als eklatanter Mißerfolg erwiesen: Daran konnte es im Sommer 1924 keinen Zweifel mehr geben.
Unstrittig war zwischen den regierenden Radicaux und den sie tolerierenden Sozialisten auch die (von Herriot schon in seiner ersten Regierungserklärung angekündigte) Aufnahme diplomatischer Beziehungen zur Sowjetunion Ende Oktober 1924. Frankreich, der Hauptgläubiger des Zarenreichs, hatte sich deshalb gegen das Regime der Bolschewiki gestellt, weil diese die Rückzahlung der russischen Vorkriegsschulden ablehnten. 1924 signalisierte Moskau seine Bereitschaft, über die Entschädigung französischer Investoren in Verhandlungen einzutreten und auf Einmischungen in die französische Innenpolitik künftig zu verzichten (beide Zusagen blieben praktisch folgenlos). Für die entschieden antikommunistische Unternehmerschaft Frankreichs aber hatte die Schuldenfrage inzwischen an Bedeutung verloren. Wichtiger erschien es ihr, die Wirtschaftsbeziehungen zur Sowjetunion zu verbessern. Auch aus diesem Grund löste die außenpolitische Kurskorrektur vom Oktober 1924 im bürgerlichen Frankreich keinen Proteststurm aus.
Anders als in der Außenpolitik gab es hinsichtlich der Finanz politikzwischen Radicaux und Sozialisten tiefgreifende Meinungsverschiedenheiten: Jene wollten die Besitzenden ungeachtet des fortschreitenden, auch durch internationale Spekulation vorangetriebenen Währungsverfalls möglichst schonen, diese die Währung durch eine Kapitalabgabe in Höhe von 10 Prozent sanieren. Finanzminister Étienne Clémentel lehnte diese Forderung ab und trat am 2. April 1925 zurück. Als sein Nachfolger, der radikale Senator Anatole de Monzie, ankündigte, daß er auf die Vorschläge der SFIO eingehen wollte, setzte eine Kapitalflucht in die Schweiz ein. Am 10. April brachte der Senat eine Finanzvorlage der Regierung Herriot und damit diese selbst zu Fall.
Mit dem Rücktritt Herriots begann eine Phase der
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