Geschichte des Westens
konservativen Republikaners Raymond Poincaré. Er bildete, nachdem Herriot für sein Kabinett keine parlamentarische Mehrheit gefunden hatte, ein «großes Ministerium», dem sechs frühere Ministerpräsidenten, darunter Briand als Außen- und Herriot als Erziehungsminister, angehörten.Poincaré selbst übernahm in Personalunion auch die Leitung des Finanzministeriums. Mitglieder von der rechten Fédération républicaine unter Louis Marin bis hin zu den Radicaux waren in der Regierung vertreten; bei den Radicaux verweigerte aber eine linke Minderheitsgruppe unter Édouard Daladier die Unterstützung des Kabinetts Poincaré. Der Ministerpräsident genoß wegen seines Sachverstands und seiner Solidität einen starken Rückhalt bei Industrie und Banken. Der bloße Regierungswechsel reichte aus, um dem Franc zu einem beträchtlichen Kursgewinn gegenüber dem Pfund Sterling zu verhelfen: Innerhalb einer Woche sank der Preis des Pfundes von 245 auf 184 Franc.
Poincaré begann seine Stabilisierungspolitik mit Steuererhöhungen, die über die Empfehlungen einer Expertenkommission noch hinausgingen, umfassenden Einsparungen im Staatshaushalt und einem drastischen Personalabbau im öffentlichen Dienst. Auf diese Weise wurde zunächst das Defizit im Budget, dann das in der Zahlungsbilanz beseitigt. Die Banque de France setzte den Zinsfuß von 6 auf 7½ Prozent herauf. Die Sondervollmachten, die Poincaré für die Durchführung des neuen Kurses benötigte, waren ihm, anders als der Vorgängerregierung, von der Deputiertenkammer mit großer Mehrheit bewilligt worden. Am 16. August 1926 ließ der Ministerpräsident, um den Unterzeichnern der Kriegsanleihen und kleinen Sparern ein Gefühl der Sicherheit zurückzugeben, Deputiertenkammer und Senat als Nationalversammlung in gemeinsamer Sitzung feierlich die Errichtung einer autonomen Amortisationskasse (Caisse d’Amortisation) beschließen, deren einziger Zweck die Tilgung der Staatsgutscheine war.
Seinen ursprünglichen Plan, die Vorkriegsparität zwischen Franc und Pfund, nämlich 25 zu 1, wiederherzustellen, gab Poincaré aus Furcht vor sozialen Unruhen rasch wieder auf. Am 20. Dezember 1926 wurde die Banque de France ermächtigt, so viele Devisen einzukaufen, daß der Franc beim Stand von 122 Franc gleich 1 Pfund Sterling gehalten werden konnte. Die Prosperitätsphase, in der die westliche Welt sich 1926/27 befand, trug entscheidend dazu bei, daß die Stabilisierung ohne große Erschütterungen erfolgen konnte: An Streikaktionen des kommunistischen CGTU beteiligte sich nur eine Minderheit der Arbeiter.
Die verbliebene Zeit bis zu den Kammerwahlen von 1928 nutzte die Regierung Poincaré für einige einschneidende Reformen, darunter1927 die schrittweise Einführung des unentgeltlichen Unterrichts an der Unterstufe der Gymnasien und im März 1928 die Einführung obligatorischer Sozialversicherungen für Krankheit, Schwangerschaft, Alter und Tod, die allerdings, nachdem sie am 1. Juli 1930 in Kraft getreten waren, wegen des hinhaltenden Widerstands der meisten Unternehmen nur schwache Wirkungen entfalten konnten. 1927 stellte die Kammer das bis 1919 gültige Mehrheitswahlrecht mit zwei Wahlgängen wieder her, wobei auch die Sozialisten, obwohl eher Anhänger des Verhältniswahlrechts, auf Betreiben Léon Blums der Änderung zustimmten. Bei den Wahlen vom April 1928 traten die Parteien der Mitte und der Rechten als Block unter der Parole «Unité nationale» an; die Radicaux und die Sozialisten gingen in vielen Wahlkreisen Wahlbündnisse ein.
Aus dem ersten Wahlgang am 22. April 1928 gingen die Sozialisten mit 1,69 Millionen Stimmen erstmals als stärkste Partei hervor. Die Radicaux kamen auf 1,66 Millionen, die Parteien der Rechten auf 2,4, die der rechten Mitte auf 2,1 Millionen. Beim zweiten Wahlgang am 29. April schwenkten viele Wähler der Radicaux zu den Parteien der Nationalen Einheit um. Das verschaffte diesen einen deutlichen Vorsprung: Sie erhielten 325 von insgesamt 610 Mandaten. Hätten die Kommunisten beim zweiten Wahlgang Kandidaten der Sozialisten oder der Radicaux unterstützt, statt ihre Bewerber im Rennen zu belassen, wäre das Ergebnis vermutlich ein ganz anderes gewesen.
Den Wahlerfolg nahm Poincaré zum Anlaß, den Franc nunmehr offiziell zu stabilisieren. Am 24. Juni 1928 wurde der Franc beim Kurs von 124 zum Pfund Sterling und 25,5 zum amerikanischen Dollar wieder auf die Goldbasis gestellt. Das entsprach einer Abwertung um 80 Prozent
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