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Geschichte des Westens

Geschichte des Westens

Titel: Geschichte des Westens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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«notwendigen Lebensbedarf» decken. Hierzu gehörten vor allem Obdach, Nahrung, Kleidung, Krankenpflege sowie gegebenenfalls die Beerdigungskosten. Wohlfahrtshilfe konnte aus Geld oder Sachleistungen bestehen, wobei die Betroffenen zu frühestmöglicher Rückzahlung verpflichtet waren. Seit dem Frühjahr 1931 sank der Anteil der Hauptunterstützungsempfänger an der Gesamtzahl der Arbeitslosen, während die Anteile der Empfänger von Krisenfürsorge und Wohlfahrtshilfe stiegen. Während der Krise wurde nicht nur mehrfach die Dauer der Hauptunterstützung verkürzt, sondern auch die Höhe der Leistungen abgesenkt. Gleichzeitig mußten die arbeitslos Gewordenen längere Wartezeiten in Kauf nehmen. Die Folge war eine fortschreitende Verelendung auf den untersten Stufen der sozialen Pyramide.
    Der Protest gegen die Verschlechterung der Lebensbedingungen während der Großen Krise war in Deutschland, anders als in Amerika, von Anfang an kein rein sozialer, sondern ein radikal politischer: Zum Sprachrohr der Arbeitslosen machten sich in erster Linie die Kommunisten, zur Vertretung der Schichten, die von sozialen Abstiegsängsten umgetrieben wurden, die Nationalsozialisten. Zwischen den extremen Kräften von links und rechts gab es, verstärkt seit 1929, immer wieder blutige Straßenschlachten. Nicht selten kam es auch zu Auseinandersetzungen zwischen Hitlers «braunen Bataillonen», der SA, und dem 1924 ins Leben gerufenen republikanischen, überwiegend sozialdemokratisch geprägten Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold sowie zu Kämpfen zwischen Kommunisten und Reichsbanner oder zwischen Kommunisten und Stahlhelm.
    Anders als die SA griffen die Kommunisten auch direkt die Polizeian, was dazu beitrug, daß sie aus der Sicht der Behörden wie der bürgerlichen Parteien als die, verglichen mit den Nationalsozialisten, weitaus größere Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung erschienen. Über einen formellen paramilitärischen Arm verfügten die Kommunisten nach dem Verbot des Roten Frontkämpferverbandes im Mai 1929 nicht mehr. Bewaffnet war seit März 1931 nur noch der geheime Parteiselbstschutz, während die Mitglieder des 1930 geschaffenen Kampfbundes gegen den Faschismus keine Waffen tragen durften. Das staatliche Gewaltmonopol wurde durch die paramilitärische Gewalt herausgefordert, aber, anders als in Italien in den Jahren zwischen 1920 und 1922, nicht zunehmend außer Kraft gesetzt: Auf die Loyalität der Polizei konnten sich die Regierungen von Reich und Ländern in der späten Weimarer Republik im allgemeinen verlassen.
    Für die politischen Geschicke Deutschlands war seit dem Bruch der Großen Koalition Ende März 1930 nicht mehr eine parlamentarische Mehrheitsregierung, sondern ein bürgerliches Minderheitskabinett verantwortlich. An seiner Spitze stand der bisherige Fraktionsvorsitzende der Zentrumspartei, Heinrich Brüning, ein damals vierundvierzigjähriger asketischer Junggeselle aus dem westfälischen Münster. Nach einem breit angelegten historischen und sozialwissenschaftlichen Studium, das er mit einer volkswirtschaftlichen Promotion abschloß, war er im Ersten Weltkrieg Frontoffizier gewesen; er war verwundet und dekoriert worden. Seine Tätigkeit als Geschäftsführer der christlich-nationalen Gewerkschaften, die 1920 begann, bewahrte ihn davor, innerhalb des Zentrums, anders als der seit Ende 1928 amtierende Parteivorsitzende Prälat Ludwig Kaas, als «Rechter» abgestempelt zu werden. Auf der anderen Seite hatte sich Brüning als Haushaltsexperte im Reichstag, dem er seit 1924 angehörte, auch in konservativen Kreisen hohes Ansehen erworben. Daß Brüning Katholik war, mochte ihm in den Augen kulturkämpferischer Liberaler schaden. Aus der Sicht des Kreises um Hindenburg war die Konfession des neuen Kanzlers eher ein Vorzug: Durch Brünings Vermittlung wurde der politische Katholizismus zu einer Stütze des stillen Verfassungswandels, den der Reichspräsident und seine Umgebung anstrebten.
    Die Regierung Brüning war zunächst kein offenes, sondern ein verdecktes Präsidialkabinett. Ihm gehörten, neben dem parteilosen Reichswehrminister Groener, Vertreter der bisherigen bürgerlichen Regierungsparteien an, außerdem je ein Minister der DNVP, der Wirtschaftsparteiund der neuen Volkskonservativen Vereinigung, die aus ehemaligen Deutschnationalen und Abgeordneten der Bauern- und Landvolkpartei bestand. Der deutschnationale Ernährungsminister Martin Schiele legte allerdings bei seinem Eintritt

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