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Geschichte des Westens

Geschichte des Westens

Titel: Geschichte des Westens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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den Führern der Sozialdemokratie, sie seien «nicht nur die Henkersknechte der deutschen Bourgeoisie, sondern gleichzeitig die freiwilligen Agenten des französischen und des polnischen Imperialismus. Alle Handlungender verräterischen, korrupten Sozialdemokratie sind fortgesetzter Hoch- und Landesverrat an den Lebensinteressen der arbeitenden Massen Deutschlands.»
    An der Reichstagswahl vom 14. September 1930 beteiligten sich 82 Prozent der wahlberechtigten Deutschen – mehr als an irgendeiner anderen Reichstagswahl seit 1920. Die eigentliche Sensation aber war das Abschneiden der Nationalsozialisten. Von etwas über 800.000 Stimmen im Mai 1928 waren sie auf 6,4 Millionen angewachsen. Das bedeutete einen Anstieg von 2,6 auf 18,3 Prozent und von 12 auf 107 Mandate. Beachtlich, aber weniger dramatisch waren die Gewinne der Kommunisten: Sie stiegen von 10,6 auf 13,1 Prozent und von 54 auf 77 Sitze.
    Die übrigen Parteien gehörten zu den Verlierern. Die Deutschnationalen wurden halbiert: Von 14,3 fielen sie auf 7 Prozent. Die Deutsche Volkspartei sank von 8,7 auf 4,5, die Deutsche Staatspartei, die frühere DDP, von 4,9 auf 3,8 Prozent. Vergleichsweise gering waren die Verluste der katholischen Parteien: Das Zentrum, das 1928 12,1 Prozent erhalten hatte, verbuchte jetzt 11,8 Prozent, die Bayerische Volkspartei 3 statt 3,1 Prozent zwei Jahre zuvor. Weit stärker waren die Einbußen der immer noch größten Partei: Die SPD fiel von 29,6 auf 24,5 Prozent. Die neugegründete Konservative Volkspartei kam zusammen mit der regionalistischen Deutsch-Hannoverschen Partei auf ganze 1,1 Prozent.
    Die Nationalsozialisten waren
die
Nutznießer der gestiegenen Wahlbeteiligung, aber die bisherigen Nichtwähler waren nicht die wichtigste Quelle des «braunen» Erfolgs. Die Wähler der NSDAP hatten in ihrer Mehrzahl früher für andere Parteien gestimmt, zumeist für die Deutschnationalen und die liberalen Parteien. Protestanten waren für die Nationalsozialisten doppelt so anfällig wie Katholiken. Selbständige, Bauern, Beamte, Rentner und Pensionäre waren unter den Wählern stärker vertreten, als es ihrem Anteil an der Bevölkerung entsprach, Arbeiter und Angestellte dagegen deutlich schwächer. Die Arbeitslosen schließlich, deren Zahl im September 1930 bei etwas über 3 Millionen lag, trugen zum Aufstieg des Nationalsozialismus nur verhältnismäßig wenig bei: Erwerbslose Arbeiter gaben ihre Stimme häufiger der Partei Ernst Thälmanns als der Adolf Hitlers.
    Die starke Anziehungskraft, die die NSDAP auf die selbständigen und unselbständigen Mittelschichten ausübte, hat manchen zeitgenössischenBeobachter dazu gebracht, im Nationalsozialismus eine Mittelstandsbewegung zu sehen. Tatsächlich reichte das Einzugsfeld der Partei Hitlers über diese Schichten so weit hinaus, daß man ihr, soziologisch betrachtet, den Status einer «Volkspartei» zuerkennen muß. Die alten sozialen und konfessionellen «Milieus» waren um 1930 längst nicht mehr so fest gegeneinander abgeschottet wie im Kaiserreich: Schallplatte, Film und Rundfunk hatten begonnen, einer neuen, die Milieugrenzen überspringenden Massenkultur den Boden zu bereiten. Doch die «alten» Parteien erkannten die Herausforderung kaum, die in dieser Entwicklung lag. Die Nationalsozialisten dagegen nutzten die Mittel der modernen Massenkommunikation konsequent und trugen einem verbreiteten Bedürfnis nach Gemeinschaft jenseits von Stand, Klasse und Konfession Rechnung – einem Bedürfnis, das vor allem in der jüngeren Generation stark ausgeprägt war, politisch aber bislang brachgelegen hatte. So rückwärts gewandt vieles war, was die NSDAP ihren Wählern versprach, so war der Erfolg dieser Partei doch vor allem eine Frucht ihrer Fähigkeit, sich den Bedingungen des Massenzeitalters anzupassen und in diesem Sinn «Modernität» zu beweisen.
    Die Antwort, die die Nationalsozialisten auf das Gemeinschaftsbedürfnis gaben, war, 1930 nicht anders als in den Jahren zuvor, ein extremer Nationalismus, der sich vor allem gegen einen inneren Feind, den «Marxismus» aller Schattierungen, richtete, aber auch vorzüglich dazu taugte, die «Young-Parteien» insgesamt und mit ihnen das verhaßte «System» von Weimar an den Pranger zu stellen. Der Nationalismus sollte alles überwölben, was die Deutschen trennte. Judenfeindliche Parolen wie etwa Attacken auf das angebliche «Sklavenjoch der Weltfinanz» gingen mit dem Appell an die nationalen Instinkte häufig Hand

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