Geschichte des Westens
durch die Inflation ihre Einlagen weithin verloren und daher Fremdkapital, meist in Form von Auslandskrediten, in Anspruch genommen, um ihrerseits Kredite vergeben zu können. Das Verhältnis von eigenen zu fremden Mitteln lag 1929 nicht mehr, wie es der klassischen Regel entsprach bei 1:3, sondern bei 1:10,4, bei den Berliner Großbanken bei 1:15,5. Infolgedessen konnte das deutsche Kreditwesen durch Abzug ausländischer Einlagen rasch erschüttert werden, und ebendiese Abzüge setzten bald nach dem «Great Crash» ein. Zudem hing der deutsche Kredit im Ausland stark von der Einschätzung der jeweiligen politischen Situation im Reich ab. So führte der Kampf der extremen Rechten gegen den Young-Plan im Herbst 1929 sogleich zu einer spürbaren Zurückhaltung ausländischer Banken gegenüber deutschen Kreditwünschen.
Die Arbeitslosigkeit stieg in Deutschland ähnlich rasch an wie in den USA: von 3,47 Millionen bei den Arbeitsämtern gemeldeten Erwerbslosen im ersten Quartal 1930 auf 4,97 Millionen im ersten Quartal 1931 und 6,13 Millionen im ersten Quartal 1932. Rechnete man die «unsichtbare», aus Scham verschwiegene Arbeitslosigkeit hinzu, so kam man nach Schätzung zeitgenössischer Experten im Februar 1933 auf einen absoluten Höchststand von 7,78 Millionen. Dieverbreitete Kurzarbeit blieb dabei unberücksichtigt. Von 100 Gewerkschaftsmitgliedern verrichteten im September 1932 22,7 Kurzarbeit, während 43,6 arbeitslos waren. Mithin war nur noch ein Drittel (33,7 Prozent) voll beschäftigt. Die Volks- und Berufszählung vom Juni 1933 erbrachte im Bereich Industrie und Handwerk einen Arbeitslosenanteil von 32,2 Prozent, bei Handel und Verkehr von 15,5, bei den häuslichen Diensten von 14,4 und in der Land- und Forstwirtschaft von 3,3 Prozent. Auf dem Agrarsektor wurde Deutschland in der Tat weniger schwer von der Krise getroffen als die Vereinigten Staaten: Die landwirtschaftliche Produktion sank in Deutschland zwischen 1929 und 1932 um 36,7 Prozent, in den USA um 53,6 Prozent ihres Wertes. Die Industrieproduktion fiel in derselben Zeit hingegen in Deutschland mit 55 Prozent stärker als in Amerika mit «nur» 46 Prozent. Beim Volkseinkommen insgesamt lagen die amerikanischen Verluste deutlich über den deutschen: 54 gegenüber knapp 40 Prozent.
Das soziale Gesicht der Großen Depression war in vielem dem amerikanischen Bild ähnlich. Es gab auch die deutschen «Hoovervilles» in Form von Laubenkolonien obdachloser Erwerbsloser am Rande der großen Städte, das heißt Siedlungen aus primitiven Holzhütten auf gepachtetem Boden; es gab die Ströme der obdachlosen Arbeiter, die auf der Suche nach einer Beschäftigung und einer Bleibe von einem Teil Deutschlands in den anderen zogen, darunter viele landwirtschaftliche Saisonarbeiter, die im Sommer auf ostelbischen Gütern arbeiteten; es gab städtische Notküchen und immer schlechtere Ernährungsverhältnisse, die den Arzt und Ernährungswissenschaftler Helmut Lehmann 1931 veranlaßten, «vor einer verschleierten Hungersnot größten Ausmaßes mit Gefahren der schwersten Folgen für Leib und Seele» zu sprechen.
Anders als in Amerika waren die meisten Arbeiter seit 1927, wenn auch nur für begrenzte Zeit, von Staats wegen gegen Arbeitslosigkeit versichert, im Ernstfall also nicht, wie in den USA, auf Almosen von Einzelstaaten und Kommunen und freiwillige karitative Unterstützung angewiesen. Anspruch auf erstmalige Unterstützung durch die Arbeitslosenversicherung hatten nach der Neufassung des Gesetzes vom Oktober 1929 arbeitswillige und arbeitsfähige Arbeitslose, wenn sie in den letzten zwei Jahren wenigstens 52 Wochen in einer versicherungspflichtigen Beschäftigung gestanden hatten, und zwar für die Dauervon 26 Wochen (seit Oktober 1931 von 20 Wochen, seit Juni 1932 zunächst nur bis zu einer Bedürftigkeitsprüfung nach sechs Wochen). Die Leistungen bestanden aus der Hauptunterstützung des Versicherten und gegebenenfalls aus Zuschlägen für unterhaltsberechtigte Familienangehörige.
In Zeiten andauernd besonders ungünstiger Arbeitsmarktlage hatte der Reichsarbeitsminister eine besondere Krisenunterstützung zuzulassen. Ob die betroffenen Arbeitnehmer tatsächlich eine Krisenunterstützung erhielten, hing von einer Bedürftigkeitsprüfung durch das Arbeitsamt ab. Wer keinen Anspruch auf Krisenfürsorge oder diesen bereits erschöpft hatte, konnte unter bestimmten Voraussetzungen Wohlfahrtsunterstützung erhalten. Diese sollte den
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