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Geschichte des Westens

Geschichte des Westens

Titel: Geschichte des Westens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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in Hand, wurden aber während des Wahlkampfes von 1930 weniger stark in den Vordergrund gerückt als früher, und das vor allem deshalb, weil es der NSDAP um die Gewinnung der Arbeiter ging, die aber, soweit sie SPD oder KPD zuneigten, für eine antisemitische Agitation weithin unempfänglich waren. Der Begriff «Sozialismus», der geeignet war, viele bürgerliche Wähler und zumal die älteren unter ihnen, zu verschrecken, wurde von der NSDAP beharrlich umgedeutet: Sozialismus im Sinne Hitlers meinte demnach nicht die Abschaffung des privaten Eigentums, sondern Gleichheit der sozialen Chancen und eine Wirtschaftsgesinnung, die auf dem Grundsatz des nationalsozialistischenParteiprogramms von 1920 «Gemeinnutz vor Eigentum» beruhte.
    Die Sitzverteilung im neuen Reichstag zwang das Kabinett Brüning zur Suche nach Bundesgenossen. Eine Erweiterung des Regierungslagers nach rechts außen, zu den Nationalsozialisten, war für die bürgerlichen Mittelparteien undenkbar, und auch Reichswehr und Industrie hielten die NSDAP nicht für eine regierungsfähige Partei. Daran änderte auch Hitlers spektakulärer Auftritt im Hochverratsprozeß gegen drei mit den Nationalsozialisten sympathisierende Ulmer Reichswehroffiziere nichts: Der Führer der NSDAP sagte am 25. September 1930 vor dem Reichsgericht in Leipzig unter Eid aus, seine Partei werde die Macht nur auf legalem Weg übernehmen. Auf Fragen des vorsitzenden Richters kündigte er aber anschließend an, auf dem Weg der ordentlichen Gesetzgebung werde nach der Machtübernahme ein Staatsgerichtshof gebildet werden, der die Schuldigen am November 1918 abzuurteilen habe. Deren Hinrichtung werde also auf gesetzlichem Weg erfolgen.
    Ebensowenig wie eine Regierungsbeteiligung der NSDAP erschien eine Rückkehr zur Großen Koalition möglich: Der Reichspräsident und der rechte Flügel des Regierungslagers lehnten eine solche Lösung strikt ab. Aber auch bei den Sozialdemokraten gab es massive Widerstände gegen jede Art der Zusammenarbeit mit Brüning und den Kräften, die hinter ihn standen. Auf dem linken Flügel der SPD galt der Zentrumskanzler als ein Politiker, dessen Absichten nicht weniger «faschistisch» seien als die der Nationalsozialisten. Da also weder die NSDAP noch die SPD als Regierungspartei in Frage kam, mußte sich das bürgerliche Minderheitskabinett um eine Tolerierungsmehrheit bemühen. Die Nationalsozialisten schieden hierfür schon aus außenpolitischen Gründen aus. Abgesehen davon hätte sich auch Hitler auf eine derartige Politik nicht eingelassen. Folglich gab es keine realistische Alternative zu einem Arrangement mit der Sozialdemokratie.
    Die Führung der SPD teilte diese Einschätzung. Es waren aus sozialdemokratischer Sicht vor allem drei Gründe, die nach den Septemberwahlen für eine Tolerierung Brünings sprachen. Erstens ließ sich nur auf diese Weise eine noch weiter rechts stehende, von den Nationalsozialisten abhängige Reichsregierung vermeiden. Zweitens war die Weimarer Koalition in Preußen unter dem Sozialdemokraten Otto Braun auf das höchste gefährdet, wenn die SPD im Reich den ZentrumskanzlerHeinrich Brüning zu Fall brachte. Der Abschied von den Regierungsämtern im größten deutschen Staat hätte aber auch den Verzicht auf die Kontrolle über die preußische Polizei, das wichtigste staatliche Machtmittel in der Auseinandersetzung mit Nationalsozialisten und Kommunisten, bedeutet. Drittens gab es zwischen Sozialdemokraten und Regierungslager ein breites Feld sachlicher Übereinstimmung. Sie beruhte auf der Einsicht, daß die Folgen der unsoliden «Pumpwirtschaft» nach 1924 nur durch eine konsequente Sparpolitik überwunden werden konnten. Der Sanierungskonsens schloß einen Dissens über die Verteilung der sozialen Kosten des Sparens nicht aus, wurde mithin durch diesen fortbestehenden Gegensatz nicht aufgehoben.
    Der Grund der Tolerierungspolitik wurde Ende September in vertraulichen Gesprächen zwischen Brüning und der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion gelegt. Am 3. Oktober verabschiedete die sozialdemokratische Reichstagsfraktion eine Entschließung, in der sie ihre Absicht, das Minderheitskabinett Brüning zu stützen, damit begründete, daß nach dem Ausgang der Reichstagswahl die erste Aufgabe der SPD in der Erhaltung der Demokratie, der Sicherung der Verfassung und dem Schutz des Parlamentarismus liege. Weiter hieß es, die Sozialdemokratie kämpfe für die Demokratie, um die Sozialpolitik zu schützen und die

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