Geschichte des Westens
Panik getrieben, aus Furcht vor einem Schauprozeß oder der erpreßten Denunziation Unschuldiger das Leben nahmen. Der prominenteste von ihnen war der Volkskommissar für die Schwerindustrie, Grigorij K. («Sergo») Orshonikidze: Er erschoß sich am 18. Februar 1937. Die Mediziner, die auf Befehl von oben einen Tod durch Herzstillstand diagnostizierten, wurden wenig später angeklagt und erschossen.
Mit den Schauprozessen ging eine radikale Säuberung des Parteiapparates einher, die sich gegen angebliche Spione, Saboteure, Weißgardisten, Trotzkisten, Alkoholiker und korrupte Elemente richtete. Dem Chef des NKWD, Jeschow, zufolge fiel in der zweiten Hälfte des Jahres 1935 ein Drittel aller ausgeschlossenen Parteimitglieder unter die Kategorien «Spione», «Weißgardisten» und «Trotzkisten». Das waren mehr als 43.000 Mitglieder der KPdSU. Nach Angaben des späteren Ersten Sekretärs der Partei, Nikita Sergejewitsch Chruschtschow, aus dem Jahr 1956 wurden 1937/38 98 der insgesamt 139 im Jahr 1934 gewählten Mitglieder des Zentralkomitees, also über 70 Prozent, liquidiert. Von der großen Säuberung betroffen waren auch kommunistische Exilparteien, vor allem die deutsche. 1937 wurden 619 Mitglieder der KPD verhaftet. Die meisten starben, vermutlich in der Haft.Von 82 weiß man, daß sie hingerichtet wurden, 132 wurden 1939/40 an das Deutsche Reich ausgeliefert.
Seit dem Frühjahr 1937 wurde auch die Armeeführung verdächtigt, mit Spionen und Saboteuren unter einer Decke zu stecken. Als erster wurde ein Held des Bürgerkriegs, der stellvertretende Verteidigungsminister Marschall Tuchatschewski, angeklagt, ein deutscher Agent zu sein. Das belastende Material bestand zum großen Teil aus Fälschungen des deutschen Sicherheitsdienstes, des SD, der die Akten über den ahnungslosen tschechoslowakischen Präsidenten Edvard Beneš der sowjetischen Seite zugespielt hatte. Der populäre Marschall wäre wohl auch ohne die Intrige des SD entmachtet und liquidiert worden: Stalin und Jeschow sahen in ihm seit längerem den Hauptverantwortlichen für zahllose Mißstände in der Roten Armee. Tuchatschewski wurde in der Haft gefoltert, von einem Militärtribunal zum Tode verurteilt und am 12. Juni 1937 durch Genickschuß exekutiert. Als angebliche Mitverschwörer erlitten sechs weitere hohe Generäle dasselbe Schicksal.
Insgesamt wurden 1937/38 im Zusammenhang mit der behaupteten «Militärverschwörung» mindestens 33.400 Offiziere aus der Armee ausgeschlossen und mindestens 7280 von ihnen verhaftet, darunter drei von fünf Marschällen der Sowjetunion, 15 von 16 Armee- und 60 von 70 Korpskommandeuren. Etwa 5000 Offiziere wurden hingerichtet. Damit war das Offizierskorps der Roten Armee weitgehend vernichtet. Es war das Opfer einer Parteiführung geworden, die die bewaffnete Macht von Feinden durchsetzt wähnte und sich durch systematischen Terror unbedingte Loyalität sichern wollte.
Während die Parteiführung die angebliche «Militärverschwörung» zerschlug, lief gleichzeitig eine mörderische Aktion gegen verdächtige Partei-, Staats- und Wirtschaftsfunktionäre. Das NKWD unter Nikolai Jeschow lieferte Stalin seit Juni 1937 fast täglich Listen mit den Namen von Todeskandidaten. In den meisten Fällen entsprach der Generalsekretär den Vorschlägen seines Sicherheitsministeriums. Zwischen 1937 und 1938 erhielt Stalin 383 solcher Listen. Knapp 39.000 der verdächtigten Funktionäre, darunter auch zahlreiche Tschekisten, wurden auf Stalins Weisung ohne Gerichtsverfahren erschossen. Der Diktator handelte nach der Devise, die er im Juni 1937 vor den Sicherheitsorganen ausgab: Jeder Kommunist, so gut er sich auch immer tarnen möge, sei potentiell ein «versteckter Feind». Und weil sich Feindenicht jedem sogleich zu erkennen gäben, müßten möglichst viele Menschen getötet werden. Das Ziel sei erreicht, wenn auch nur fünf Prozent aller Liquidierten tatsächliche Feinde seien.
Beim Terror gegen Wirtschaftsfunktionäre spielten Aktivisten der «Stachanow-Bewegung» eine maßgebliche Rolle. Der Grubenarbeiter Alexei Stachanow aus Irmino im Donbass war dadurch berühmt geworden, daß er 1935 im Zuge des «sozialistischen Wettbewerbs» seine Norm bei der Kohleförderung um das Vierzehnfache übertroffen hatte. Die «Stachanow-Bewegung» rekrutierte sich aus ungelernten Stoßarbeitern, die bereit waren, diesem Vorbild nachzueifern. Vom kommunistischen Regime wurden sie eingesetzt, um den Widerstand von
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