Geschichte des Westens
antijüdische Maßnahmen trafen. Durch die von den Nationalsozialisten betriebeneZwangsemigration von Juden fühlte sich in besonderem Maß die Schweiz bedroht. Am 28. Mai 1938, zwei Wochen nach dem Anschluß Österreichs, beschloß der Bundesrat in Bern, von Inhabern österreichischer Pässe bei der Einreise ein vorher ausgestelltes Schweizer Visum zu verlangen. Nach der Ersetzung österreichischer durch deutsche Pässe wurde die Maßnahme auf die Inhaber deutscher Reisedokumente ausgedehnt. Die unausweichliche Folge war, daß auch Schweizer Bürger bei der Einreise nach Deutschland ein deutsches Visum benötigten. Um diesen unerwünschten Effekt zu korrigieren, schlug die Schweiz dem zuständigen Hauptamt Sicherheitspolizei (dem späteren Reichssicherheitshauptamt) in Berlin vor, die Pässe von Juden besonders zu kennzeichnen. Das Ergebnis war das große rote «J», mit dem die deutschen Behörden fortan Pässe von Juden stempelten. Die Neuregelung, die am 4. Oktober 1938 in Kraft trat, erlaubte es der Schweizer Polizei dem amtlichen Berner Bericht zufolge, bereits an der Grenze zu prüfen, «ob der Inhaber eines deutschen Passes Arier oder Nichtarier» war.
Dem Einmarsch deutscher Truppen in das Sudetenland folgte die Ausweisung der dort lebenden Juden in das verbliebene Staatsgebiet der Tschechoslowakei, was die Prager Behörden mit der Abschiebung der betreffenden Personen beantworteten. Da sich Ungarn weigerte, die vertriebenen Juden aufzunehmen, landeten mehrere Tausend Juden im Niemandsland zwischen der Tschechoslowakei und Ungarn an der Donau, wo sie in improvisierten Zeltlagern unter unerträglichen Bedingungen kampieren mußten.
Das Schicksal der aus den Sudetengebieten vertriebenen Juden war ein Vorspiel zu dem, was einer viel größeren Gruppe von Juden bevorstand: den über 56.000 polnischen Juden, die laut der Volkszählung von 1933 im Deutschen Reich lebten. Ihre Abschiebung nach Polen verhinderte die Warschauer Regierung mit einem Gesetz vom 31. Januar 1938, das es den Behörden gestattete, im Ausland lebenden Bürgern unter bestimmten Bedingungen, die meist nur auf Juden zutrafen, die polnische Staatsangehörigkeit zu entziehen. Im Oktober erfolgte eine verschärfende Verordnung, die Pässe von Auslandspolen für ungültig erklärte, sofern deren Inhaber bis zum Ende des Monats keine besondere Einreisegenehmigung vorweisen konnten. Wer diese Genehmigung nicht erhielt, wurde mit Wirkung vom 1. November 1938 staatenlos.
Die deutsche Seite beschloß daraufhin, sofort zu handeln. Auf Befehl des «Reichsführers SS und Chefs der Deutschen Polizei», Heinrich Himmler, sollten bis zum 29. Oktober alle männlichen polnischen Juden, die in Deutschland lebten, zwangsweise nach Polen abgeschoben werden. (Daß Frauen und Kinder sich den Männern anschließen würden, galt als sicher.) Da die polnische Grenzpolizei die deportierten Juden zurückschickte, irrten diese mehrere Tage lang ohne Nahrung im Niemandsland hin und her. Die meisten wurden schließlich in ein polnisches Konzentrationslager bei Zbaszyn eingewiesen, die restlichen durften nach Deutschland zurückkehren.
Unter den 16.000 polnischen Juden, die Ende Oktober 1938 aus Deutschland vertrieben wurden und nach Zbaszyn kamen, war auch die Familie Grynszpan aus Hannover.
Ein
Familienmitglied, der siebzehnjährige Herschel Grynszpan, hielt sich um diese Zeit illegal in Paris auf. Durch seine Schwester über das Schicksal seiner engsten Angehörigen informiert, beschloß er, seinen Protest auf eine Weise zu äußern, die in der ganzen Welt gehört wurde. Er kaufte sich eine Pistole, ging am 7. November in die deutsche Botschaft und schoß dort auf den Ersten Sekretär Ernst vom Rath. Der deutsche Diplomat wurde so schwer verwundet, daß er am Nachmittag des 9. November seinen Verletzungen erlag.
Das Attentat von Paris diente den Nationalsozialisten als Fanal für die größte Pogromwelle, die Deutschland seit den Judenmorden der Pestzeit von 1348 bis 1350 erlebt hatte. Wenige Stunden, nachdem der Tod Ernst vom Raths bekannt gegeben worden war, brannten in ganz Deutschland die Synagogen. 267 jüdische Gotteshäuser wurden zerstört, etwa 7500 jüdische Geschäfte verwüstet. Mindestens 91 Juden wurden getötet, Hunderte begingen Selbstmord oder starben infolge von Mißhandlungen in den Konzentrationslagern, wohin vermögende Juden zu Zehntausenden verbracht worden waren, um sie zur Auswanderung zu zwingen.
Das Signal zu den Pogromen der
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