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Geschichte des Westens

Geschichte des Westens

Titel: Geschichte des Westens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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(vom Volksmund so genannten) «Reichskristallnacht» hatte Goebbels nach Rücksprache mit Hitler gegeben, der sich anläßlich der alljährlichen Veranstaltung zum Gedenken seines «Marsches zur Feldherrnhalle» von 1923 in München aufhielt. Verübt wurden die Greueltaten von SA, SS und zahllosen Parteigenossen als der organisierten Vorhut des deutschen Antisemitismus. Die Bevölkerung war aktiv kaum beteiligt und ließ nur wenigSympathie für die Akte des Vandalismus erkennen: «Auch den Gesichtern war ganz selten einmal anzumerken, was ihre Besitzer dachten», hieß es in einem Bericht aus München. «Hier und da fielen Worte der Schadenfreude, aber auch solche des Abscheus konnte man gelegentlich hören.» Im kleinen Heilbrunn bei Bad Tölz begrüßte ein Teil der Beobachter «das Vorgehen gegen die Juden, andere sahen dem Vorgehen gelassen zu, und wieder andere haben eher Mitleid, auch wenn sie das nicht offen aussprechen». Dem Exilvorstand der SPD, der seinen Sitz inzwischen von Prag nach Paris verlegt hatte, berichteten Vertrauensleute aus dem Reich, daß die «Ausschreitungen von der großen Mehrheit des deutschen Volkes scharf verurteilt» würden.
    Die Zeitungen der demokratischen Länder, obenan die britischen und die amerikanischen Blätter, berichteten ausführlich und meist voller Entsetzen über das, was in Deutschland in der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 geschah. Aber nur ein Land reagierte massiv: Präsident Roosevelt beorderte den amerikanischen Botschafter Hugh R. Wilson zur Berichterstattung nach Washington, um ihn kurz darauf aus Berlin abzuberufen. Sein Posten blieb demonstrativ unbesetzt. Daran änderte sich nichts bis zur Schließung der Botschaft nach der deutschen Kriegserklärung an die USA im Dezember 1941. In einer Pressekonferenz am 15. November (dem gleichen Tag, an dem Botschafter Wilson seinen Abschiedsbesuch bei Ribbentrop machte) erklärte Roosevelt zur Pogromnacht in Deutschland, er habe es kaum zu glauben vermocht, «daß solche Dinge sich in einer Zivilisation des 20. Jahrhunderts ereignen könnten» (that such things could occur in a twentieth century civilization). Der ehemalige Präsident Herbert Hoover, Innenminister Harold Ickes und Sprecher unterschiedlicher religiöser Gruppen äußerten in einer landesweit ausgestrahlten Rundfunksendung ihre Empörung über die neue Welle der Judenverfolgung in Deutschland. Fortan galten die Vereinigten Staaten in Berlin als Hauptquartier des Weltjudentums.
    Am 10. November ordnete Goebbels das Ende des Pogroms an. Die endgültige Antwort, so verlautete aus dem Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda, werde dem Judentum auf dem Weg der Gesetzgebung erteilt. Am 12. November ergingen die ersten Verordnungen. Die deutschen Juden mußten eine «Sühneleistung» in Höhe von 1 Milliarde Reichsmark entrichten, die Kosten für die Wiederherstellung ihrer Geschäfte selbst tragen und etwaige versicherungsrechtlicheAnsprüche an das Reich abtreten. Die Verordnung über die Ausschaltung der Juden aus dem Wirtschaftsleben untersagte Juden den Betrieb von Einzelhandelsverkaufsstellen, Versandgeschäften, Bestellkontoren und den selbständigen Betrieb eines Handwerks. Bis zum 1. Januar 1939 mußten Juden ihren Grundbesitz, ihre Unternehmen, Aktien, Juwelen und Kunstwerke verkaufen. Der Erlös, den die Juden dabei erzielten, war so niedrig, daß die «Arisierung» einer Enteignung gleichkam. In der Wirkung war sie eine gigantische Umverteilung von Vermögenswerten zugunsten nichtjüdischer Konkurrenten – eine Umverteilung, die bis in die Gegenwart fortwirkt.
    Zur «Arisierung» des jüdischen Besitzes kamen reine Schikanemaßnahmen hinzu. Juden durften Schwimmbäder, Kinos, Theater, Konzerte und Museen nicht mehr besuchen; die Benutzung von Eisenbahnabteilen, in denen sich «Arier» aufhielten, wurde ihnen untersagt. Es war ihnen nicht länger gestattet, Gold, Silber, Edelsteine und Rundfunkgeräte zu besitzen; Telefonanschlüsse und Führerscheine wurden ihnen entzogen. Die Zusammenlegung von Juden in «Judenhäusern» und Zwangsarbeit konnten angeordnet werden. Deutsche Schulen waren fortan für Juden gesperrt, ebenso das allgemeine Wohlfahrtssystem.
    Die gesellschaftliche Isolierung der Juden war seit der Jahreswende 1938/39 nahezu komplett. Eine Entscheidung darüber, was aus den 214.000 Juden werden sollte, die den Ergebnissen einer Volkszählung zufolge im Mai 1939 in «Großdeutschland» lebten, war um diese

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