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Geschichte des Westens

Geschichte des Westens

Titel: Geschichte des Westens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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überschritten hatte; trotz offizieller Bemühungen, ihre chaotischsten und pöbelhaftesten Aspekte einzudämmen, dauerten sie wochenlang an. Der Mob genoß die öffentlichen Schauspiele der Erniedrigung; zahllose Gauner aus allen Schichten, die entweder Parteiuniformen trugen oder nur improvisierte Hakenkreuz-Armbinden angelegt hatten, griffen zu Drohungen und Erpressungen im größten Ausmaß: Geld, Juwelen, Möbel, Autos, Wohnungen und Betriebe wurden ihren entsetzten jüdischen Besitzern entrissen.»
    Von Amts wegen wurden zwischen März und November 1938 etwa 5000 Juden in Richtung Tschechoslowakei, Ungarn und Schweiz abgeschoben. Daneben lief die legale Auswanderung, wobei die Emigration ärmerer Juden durch Zwangsabgaben der jüdischen Kultusgemeinden finanziert wurde. Unter denen, die mit behördlicher Genehmigung das Land verlassen durften, war im Juni 1938 auch der zweiundachtzigjährige Sigmund Freud, der zuvor erklären mußte, daß er nicht mißhandelt worden sei (was er mit dem sarkastischen Zusatz tat: «Ich kann die Gestapo jedermann auf das beste empfehlen.») Bis Mai 1939 hatten ungefähr 100.000 Juden Österreich verlassen; das war mehr als die Hälfte aller Juden, die zur Zeit des Anschlusses in Österreich lebten. Mit der Zwangsemigration Hand in Hand ging die «Arisierung» jüdischen Besitzes, die in Österreich zügiger und systematischer als im Altreich vonstatten ging, wo sie seit 1936 in beschleunigtem Tempo betrieben wurde.
    Die Abschiebung und Abwanderung der Juden machte das jüdische Flüchtlingsproblem endgültig zu einer internationalen Frage. Auf Initiative von Präsident Roosevelt befaßte sich im Juli 1938 in Evian auf der französischen Seite des Genfer Sees eine Konferenz, an der Vertreter von 32 Ländern teilnahmen, mit der jüdischen Flüchtlingsfrage. Das Ergebnis stand jedoch, wie Friedländer bemerkt, von Anfang an fest: Von keinem Land wurde, wie es in der Einladung hieß, erwartet, daß es mehr Emigranten aufnehme, als seine Gesetze gestatteten. Dasgalt auch für die USA mit ihrem restriktiven Einwanderungsgesetz von 1924. Tatsächlich brachte das Treffen trotz vieler humanitärer Appelle von «außen» keine konkreten Ergebnisse, wenn man einmal von der Einsetzung eines zwischenstaatlichen Komitees für Flüchtlinge unter dem Amerikaner George Rublee absieht. Die Nationalsozialisten schlugen aus dem Mißerfolg der Konferenz propagandistisches Kapital. Da kein Land seine Einwanderungspraxis zugunsten der Juden änderte, konnte der «Völkische Beobachter» seinen Bericht mit der triumphierenden Schlagzeile «Niemand will sie» überschreiben. Am 12. September erklärte Hitler auf dem Nürnberger Reichsparteitag, die großen dünn besiedelten demokratischen Reiche böten den Juden keine Hilfe, sondern nur «Moral».
    Schon vor dem Anschluß Österreichs hatte es in Deutschland Anzeichen für eine Radikalisierung der antijüdischen Politik gegeben. Anfang 1938 wurden alle Juden gezwungen, ihre Pässe abzugeben; neue Pässe erhielten nur die, die ihre Auswanderung planten. Im April erging eine Anweisung an alle Juden, ihr Vermögen anzugeben. Im Juni definierte eine Verordnung zum Reichsbürgergesetz von 1935, wann ein Gewerbebetrieb als «jüdisch» zu gelten hatte. Ein Gesetz vom 6. Juli 1938 listete gewerbliche Dienstleistungen auf, die Juden künftig untersagt waren, darunter der Beruf des Immobilienmaklers. Eine von Ministerialrat Hans Globke aus dem Reichsinnenministerium, dem späteren Chef des Bundeskanzleramtes unter Konrad Adenauer, verfaßte Verfügung vom 17. August 1938 schrieb Juden, die keinen spezifisch jüdischen Vornamen trugen, vor, als weiteren Vornamen «Israel» oder «Sara» zu führen; am 1. Januar 1939 trat die Verordnung in Kraft. Am 30. September wurde die Zulassung jüdischer Ärzte aufgehoben. Parallel dazu liefen von Goebbels als Gauleiter von Berlin veranlaßte Aktionen zur Vertreibung der Juden aus der Reichshauptstadt: Parteigenossen in Zivil malten das Wort «Jude» und einen Davidstern auf die Schaufenster jüdischer Geschäfte. Im Herbst häuften sich in vielen Teilen des Reiches antisemitische Ausschreitungen; in München und Nürnberg wurden Synagogen in Brand gesteckt.
    Auch andere Staaten beteiligten sich an der Diskriminierung von Juden. Nach Polen verabschiedete auch Ungarn im Mai 1938, noch vor dem faschistischen Italien, ein erstes antisemitisches Gesetz. Doch es waren nicht nur autoritäre oder totalitäre Regime, die

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