Geschichte des Westens
restlichen Slowakei und der Karpato-Ukraine.
Der neben Frankreich wichtigste Verbündete der Tschechoslowakei, die Sowjetunion, war zur Münchner Konferenz nicht eingeladen worden und zog aus der europäischen Herbstkrise den Schluß, daß die kapitalistischen Mächte den politischen Gegensatz zwischen Demokratie und Faschismus leicht überwinden konnten, um gemeinsame Sache gegen die Sowjetunion zu machen. Der Sowjetunion bleibe jetzt keine andere Möglichkeit, als sich mit Deutschland zu verständigen, erklärte der stellvertretende Außenminister Potjomkin am 4. Oktober dem französischen Botschafter Coulondre. Tatsächlich war der Gegensatz zur revolutionären Macht im Osten ein Element, das die Teilnehmerstaaten der Münchner Konferenz verband. Was London und Paris betraf, war der Antibolschewismus der Regierungen aber defensiv und nicht offensiv. Eine offensive Politik gegenüber der Sowjetunion betrieben drei Großmächte: das nationalsozialistische Deutschland und Japan, die im November 1936 den Antikominternpakt abgeschlossen hatten, und Italien, das ihm ein Jahr später beigetreten war.
Stalin hatte also Grund, sich bedroht zu fühlen. Aber auch von der Sowjetunion gingen Drohungen aus. Einen deutschen Angriff auf die Tschechoslowakei wollte sie mit einem Angriff auf Polen beantworten, von dem man in Moskau annahm, daß es der Roten Armee im Ernstfall kein Durchmarschrecht einräumen würde. Über die Komintern unterstützte Moskau die Absicht der tschechoslowakischen Kommunisten, einen nationalen Verteidigungskrieg in einen mitteleuropäischen Bürgerkrieg umzuwandeln, um die proletarische Revolution zum Sieg zu führen. Daß Hitler mit seinem Antibolschewismus in den westlichen Demokratien Widerhall fand, war auch ein Echo auf die Politik Stalins – die großen Säuberungen in der Sowjetunion, die Bürgerkriegspropagandaund die revolutionären Aktivitäten der Kommunistischen Internationale westlich der sowjetischen Grenzen.
Die Gefahr, daß die Sowjetunion aus einem europäischen Krieg gestärkt hervorgehen würde, war den Regierungen der westlichen Demokratien, aber auch der Prager Führung im Krisenjahr 1938 stets bewußt. Gegenüber der Gefahr, die vom nationalsozialistischen Deutschland ausging, schlossen hingegen nicht nur die meisten britischen Konservativen und die in Frankreich wieder tonangebenden bürgerlichen Parteien die Augen, es war vielmehr in beiden Ländern die breite Mehrheit der Gesellschaft, die den Ernst der Bedrohung nicht wahrhaben wollte.
Ob konfliktbereite Realisten wie Churchill schon im Herbst 1938 eine Mehrheit für eine Politik hinter sich zu bringen vermocht hätten, die notfalls zur militärischen Konfrontation mit Hitler bereit war, muß ebenso offen bleiben wie die Frage, ob eine zum Krieg entschlossene Regierung damals der Unterstützung der Dominions des Commonwealth hätte sicher sein können. Möglicherweise bedurfte es der Erfahrung des Scheiterns einer zunehmend illusionär gewordenen Appeasementpolitik, um der Einsicht zum Durchbruch zu verhelfen, daß die Demokratien Westeuropas über die militärische Rüstung hinaus äußerste Anstrengungen unternehmen mußten, wenn sie sich gegenüber dem gefährlichsten aller Aggressoren behaupten wollten. Daß sich bis zum September 1938 nur Minderheiten zu dieser Erkenntnis durchgerungen hatten, machte
die
Politik erst möglich, die mit innerer Logik zum moralischen Debakel von München führte: die Aufopferung des einzigen demokratisch gebliebenen Staates des östlichen Mitteleuropa durch die westlichen Demokratien, dargebracht auf dem Altar einer vermeintlichen Realpolitik.[ 15 ]
9. November 1938:
Vorgeschichte, Ablauf und Folgen der Judenpogrome in Deutschland
Vom deutschen Griff über die Grenzen war keine Menschengruppe so sehr betroffen wie die Juden. Allein durch den Anschluß Österreichs fielen 190.000 Juden in die Hände der Nationalsozialisten. Die Verfolgung der Juden in der nunmehrigen «Ostmark» des Reiches undnamentlich in Wien, einer Hochburg der österreichischen Antisemiten, ging, wie Saul Friedländer schreibt, über das hinaus, was man zuvor in Deutschland erlebt hatte. «Die öffentliche Demütigung war krasser und sadistischer, die Enteignung besser organisiert, die Zwangsemigration rascher. Die Österreicher … dürsteten anscheinend mehr nach antijüdischen Aktionen als die Bürger des nunmehrigen Altreichs. Die Gewalttätigkeiten hatten bereits begonnen, bevor die Wehrmacht die Grenze
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