Geschichte des Westens
unterworfen hatten, war 1945 kein sicherer Besitz mehr. Eine «Dritte Welt» gab es unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg noch nicht. Aber zwei der Staaten, die zwischen 1945 und 1949 neu entstanden, Indien und Indonesien, waren schon von der bloßen Größe her dazu prädestiniert, eine führende Rolle zu übernehmen, wenn sich die Länder außerhalb der Einflußsphären der «Großen Zwei» eines Tages anschicken sollten, ihre gemeinsamen Interessen wahrzunehmen.
Die Sowjetunion hatte sich von jeher als antiimperialistische Macht verstanden, was sie nicht daran hinderte, China gegenüber in der Mandschurei eine Politik zu betreiben, mit der sie in die Fußstapfen des imperialistischen Zarenreiches trat. Nach 1945 konnte Moskau mehr denn je darauf setzen, daß sich aus den nationalen Befreiungsbewegungen Kämpfer für den globalen Klassenkampf und damit für die Weltrevolution rekrutieren lassen würden. Die Vereinigten Staaten, die ihre Existenz einer antikolonialen Revolution verdankten, mußten sich schon deshalb vom Kolonialismus distanzieren, weil sie sich sonst gegenüber der Sowjetunion eine Blöße gegeben hätten.
Der Zweite Weltkrieg hat der Emanzipation der KolonialvölkerAuftrieb gegeben – aber nicht, weil sein Urheber, Adolf Hitler, das gewollt hätte, sondern weil der von ihm entfesselte Krieg die alten Kolonialmächte nachhaltig schwächte. Am Ende dieses Krieges waren die Tage des britischen Empire, das Hitler stets bewundert hatte, gezählt, und die des französischen Kolonialreiches ebenso. Die Nachkriegsordnung, deren erste Umrisse 1945 erkennbar wurden, trug mithin in Europa wie in Asien auf eine paradox anmutende Weise immer noch einen deutschen Stempel: Sie war weithin das Resultat des zweiten, katastrophal gescheiterten Versuchs, aus dem 1871 gegründeten Deutschen Reich eine Weltmacht, ja die Weltmacht schlechthin zu machen.[ 33 ]
Von Weltkrieg zu Weltkrieg:
Rückblick auf eine Ausnahmezeit
Am 18. September 1941 unternahm General de Gaulle, der Chef der France libre in London, in einer Rundfunkrede an die Franzosen einen Versuch, das aktuelle Kriegsgeschehen in einen großen historischen Zusammenhang einzuordnen. «Der Krieg gegen Deutschland hat 1914 begonnen», sagte er. «Der Vertrag von Versailles hat ihn in der Tat keineswegs beendet. Es hat lediglich einen Waffenstillstand gegeben, in dessen Verlauf der Feind seine Angriffskraft wiederherstellte. Seit dem März 1936 begann die deutsche Aggression aufs neue, zuerst mit der Rheinlandbesetzung, dann gegen Österreich und die Tschechoslowakei, gefolgt von der Vorbereitung der Feldzüge gegen Polen, Belgien und Frankreich, die ihrerseits nur Vorspiele waren zum Angriff auf Rußland und der jetzigen Konzentration der Kriegsanstrengungen auf die Angelsachsen. In Wirklichkeit befindet sich die Welt also im Dreißigjährigen Krieg, für oder gegen die Weltherrschaft des Deutschtums.» (En réalité, le monde fait la Guerre de trente ans, pour ou contre la domination universelle du germanisme.) Zweieinhalb Jahre später machte sich Churchill diese Geschichtsdeutung zu eigen. In einem Brief an Stalin schrieb der britische Premierminister am 27. Februar 1944, er betrachte «die deutsche Aggression als Ganzes und als einen dreißigjährigen Krieg von 1914 an».
Das Wort vom neuen Dreißigjährigen Krieg war ein Mittel der psychologischen Kriegführung, aber deswegen nicht ohne historische Substanz. 1914 trug Deutschland zwar nicht die Alleinschuld an der Auslösung des Ersten Weltkrieges, aber es war doch die Großmacht, die die größte Verantwortung für die Eskalation der Julikrise und damit für die Ausweitung des österreichisch-serbischen Konflikts in einen großen europäischen Krieg trug. Nach 1918 fand sich Deutschlandmit seiner Niederlage nicht ab, und wenn sich das Land in einer Sache einig war, dann darin, daß der Vertrag von Versailles zutiefst ungerecht und revisionsbedürftig war. Hitler war von Anfang an zur kriegerischen Expansion entschlossen, wobei er freilich im Gegensatz zum landläufigen Revisionismus niemals daran dachte, sich mit den Grenzen der Vorkriegszeit zu begnügen. Es gab mithin eine Kontinuität, was die Infragestellung des Status quo durch Deutschland anging, und seit der Machtübertragung an Hitler bildete dieses Streben den eigentlichen Unruhefaktor der europäischen Politik. Im nachhinein lag es also nahe, in der Zwischenkriegszeit nur einen brüchigen Waffenstillstand zu sehen und der deutschen
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