Geschichte des Westens
20. Jahrhunderts, die man beide Ausnahmezeiten nennen kann, ist erhellend. Wie der Dreißigjährige Krieg waren der Erste und der Zweite Weltkrieg nicht nur Konflikte zwischen Staaten; sie wurden auch auf der Ebene der weltanschaulichen Auseinandersetzung geführt und nahmen teilweise bürgerkriegsartige Formen an. Wie 1648 bedeutete 1945 eine tiefe Zäsur für das Staatensystem und die innere Ordnung der Staaten. Brachte der Dreißigjährige Krieg den Sieg des Grundsatzes «cuius regio, eius religio», so der Zweite Weltkrieg nach einer Formel des Staatsrechtlers Hans Peter Ipsen den Triumph der Formel «cuius occupatio, eius constitutio» (wer die Besatzungsmacht hat, bestimmt die Verfassung). Das «Westfälische System» beruhte auf der Maxime, daß alle Staaten selbst souverän über ihre innere Ordnung bestimmten, anderen Staaten also kein Interventionsrecht zustand. Das System von Jalta und Potsdam übertrug diese Devise auf die Einflußsphären der Großmächte: Was innerhalb der sich allmählich herausbildenden «Blöcke» geschah, rechtfertigte keine gewaltsame Einmischung der jeweils anderen Seite, und das auch dann nicht, wenn die Hegemonialmacht die Souveränität eines Staates in der eigenen Einflußzone mißachtete. Zu Konflikten zwischen den Führungsmächten konnte es kommen, wo sich die Einflußsphären, wie bei der Behandlung Deutschlands als wirtschaftliche Einheit, überschnitten oder, wie 1950 im Fall Korea, die formell vereinbarte Demarkationslinie von einer Seite ignoriert und überschritten wurde.
Neben den Parallelen gibt es jedoch auch fundamentale Unterschiede zwischen den Konstellationen des 17. und des 20. Jahrhunderts. Der Dreißigjährige Krieg erschien bereits den Zeitgenossen trotz klar voneinander zu trennender Phasen und wechselnder Koalitionen als
ein
Krieg. In der zwei Jahrzehnte währenden Zwischenkriegszeit des 20. Jahrhunderts hatten die allermeisten Europäer und die Nordamerikaner nicht das Empfinden, sich im Kriegszustand zu befinden. Der Friede, wie er aus den Pariser Vorortsverträgen hervorging, hätte vermutlich noch sehr viel länger Bestand gehabt, wenn die Weimarer Republik nicht in den Stürmen der Weltwirtschaftskrise untergegangen und vom «Führerstaat» Adolf Hitlers abgelöst worden wäre. Der Begriff des «zweiten Dreißigjährigen Krieges» suggeriert eine Zwangsläufigkeitder Entwicklung zwischen 1914 und 1945 und verwandelt die Friedensjahre im nachhinein in eine optische Täuschung – eine teleologische und deterministische Geschichtssicht, die keinen Raum mehr läßt für die Unterscheidung zwischen dem, was als Möglichkeit im Ausgang des Ersten Weltkrieges angelegt war, und dem, was unter dem Einfluß einer globalen ökonomischen Katastrophe politische Wirklichkeit wurde.[ 1 ]
Für den Ersten Weltkrieg, der für Franzosen und Briten immer noch der «Große Krieg» ist, gilt mehr als für viele andere Kriege, daß er im Sinne Heraklits «der Vater aller Dinge» war. «Der Große Krieg hat der Theorie der Gewalt zu einem überwältigenden Triumph verholfen», schrieb der Wirtschaftswissenschaftler Moritz Julius Bonn 1925 in seiner Schrift «Die Krisis der europäischen Demokratie». «Die Kriege der vergangenen Zeiten sind größtenteils von Berufssoldaten ausgefochten worden. Der Große Krieg war ein Krieg der Völker. Jeder einzelne fühlte seine Wirkung täglich am eigenen Leibe, auch wenn er nur im Hinterlande beruflich tätig war. In dieser Beziehung ähnelte der Weltkrieg weit mehr einem gut organisierten Bürgerkrieg, der seiner Natur nach alle Beziehungen der Gesellschaft, die er heimsucht, erschüttert … Der Krieg ist die Verneinung der Grundsätze, auf denen die moderne Zivilisation aufgebaut ist. Er verneint die Unverletzlichkeit des Privateigentums, er verleugnet die Heiligkeit des menschlichen Lebens; er zerreißt die Verträge … Der Geist der Gewalttätigkeit, der vier Jahre lang ununterbrochen getobt hat, kann sich nicht plötzlich in ein Gefühl der fügsamen Einordnung verwandeln, wenn der Befehl zur Demobilisierung erteilt worden ist.»
Paramilitärische Gewalt wurde nach 1918 zu einem Merkmal der inneren Politik vieler Staaten, zumal der besiegten. Den Umschlag des Krieges in den Bürgerkrieg erlebte als erstes Land Rußland. Schon im November 1914 hatte Lenin die Parole ausgegeben, die «Umwandlung des gegenwärtigen imperialistischen Krieges in den Bürgerkrieg» sei die «einzig richtige proletarische Losung». Seine
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