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Geschichte des Westens

Geschichte des Westens

Titel: Geschichte des Westens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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Theorie in Praxis umzusetzen hatte Lenin nach der Oktoberrevolution von 1917 Gelegenheit, wobei er hoffte, daß das russische Beispiel zur Initialzündung für die Revolution in ganz Europa werden würde.
    Tatsächlich konnte sich die kommunistische Revolution nur in Rußland durchsetzen, als Drohung aber war sie dank der KommunistischenInternationale und ihrer Mitgliedsparteien bald überall in Europa präsent. Die Bürgerkriege der unmittelbaren Nachkriegszeit blieben regional begrenzt und wuchsen nicht zu dem von den Bolschewiki erwarteten
einen
großen Bürgerkrieg zusammen. Die Angst vor dem Bürgerkrieg und der roten Revolution aber erfaßte ganz Europa, und nirgendwo war sie so stark und so weit verbreitet wie in dem Land, ohne dessen aktive Hilfe Lenin und die Bolschewiki gar nicht an die Macht gelangt wären: in Deutschland. Der tiefere Grund dieses Sachverhalts war ein nationales Trauma: die Erfahrung des Zusammenbruchs aller gewohnten Ordnung, von Chaos, blinder Gewalt und dem Wüten von fremder Soldateska im Dreißigjährigen Krieg. Er war
das
negative Schlüsselereignis der älteren deutschen Geschichte, die deutsche Urkatastrophe.
    Wie das bolschewistische Rußland war auch sein stärkster Gegenspieler, die Vereinigten Staaten von Amerika, 1917 erstmals ein Akteur der europäischen Politik geworden. Präsident Wilson, der den entscheidenden Anteil am Kriegseintritt der USA hatte, gab mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker eine Parole aus, die eine größere Kraft entfalten sollte als Lenins Aufruf zur Weltrevolution. Die ostmittel- und südosteuropäischen Nachfolgestaaten des russischen und des habsburgischen Vielvölkerreiches wurden zu Nutznießern zweier urwestlicher Prinzipien, der Volkssouveränität und der demokratischen Mehrheitsentscheidung, die unlösbar mit der Amerikanischen Revolution von 1776 und der Französischen Revolution von 1789 verknüpft waren.
    Die Anwendung dieser Grundsätze auf gemischt nationale Gebiete führte freilich von Anfang an zu Konflikten mit anderen westlichen Traditionen, nämlich der Achtung der Menschen- und Bürgerrechte
aller
Staatsbürger und damit der Toleranz gegenüber Minderheiten. Die neuen Staaten fühlten sich als Nationalstaaten, im strikten Sinne aber war es keiner von ihnen; Jugoslawien, die Tschechoslowakei und Polen waren ausgesprochene Nationalitätenstaaten. Die vom Völkerbund erzwungenen Minderheitsschutzverträge wirkten in den wenigsten Fällen befriedend; von Finnland und Estland abgesehen konnte man in keinem der neuen Staaten von einem alles in allem gedeihlichen Verhältnis zwischen der Titularnation und den ethnischen Minderheiten sprechen.
    Die Nationalitätenprobleme erschwerten die Bildung stabiler politischer Mehrheiten und trugen auf diese Weise mit dazu bei, daß die westlicheDemokratie in den meisten der jungen Staaten keine festen Wurzeln schlug. Andere typische Hypotheken der Demokratie waren die Landarmut der Bauern, der verbreitete Analphabetismus, das Mißtrauen des Klerus, des Militärs und der privilegierten Schichten, obenan der Großgrundbesitzer, gegenüber dem parlamentarischen System und der radikale Protest von Bauern, «Kleinbürgern» und Arbeitern gegen die bestehenden Verhältnisse. Die Regierenden antworteten auf die inneren Krisenerscheinungen meist mit einem forcierten Nationalismus, häufig auch Antisemitismus, und dem Rückgriff auf repressive Herrschaftsmittel. Im Endeffekt triumphierte die «self-determination» der jeweils führenden Nation über das demokratische «self-government» der Staatsbürger: eine Entwicklung, die Wilsons faktische Gleichsetzung beider Prinzipien ad absurdum führte.
    Der erste neue Staat, der sich in ein autoritäres System verwandelte, war 1919/20 Ungarn: eine Verlierernation, die ihren früheren, durch den Vertrag von Trianon eingebüßten Gebieten nachtrauerte, und zudem das einzige Land Mitteleuropas, das 1919 eine kommunistische Revolution erlebt hatte. Ein Jahrzehnt nach dem Ende des Ersten Weltkrieges gab es unter den neuen Staaten nur noch wenige, die man als Demokratien bezeichnen konnte. Mitte der dreißiger Jahre wurden alle bis auf zwei mehr oder minder autoritär regiert. Die Ausnahmen waren die Tschechoslowakei, das bürgerlichste und am stärksten industrialisierte und säkularisierte Land unter den Nachfolgestaaten der Vielvölkerreiche, und Finnland, das sich den skandinavischen Demokratien zurechnete und von ihrer politischen Kultur stark beeinflußt war.

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