Geschichte des Westens
wiedergewarnt, daß der Rückzug aus Indien der Anfang vom Ende des Empire sein würde. Die Labour-Regierung ließ sich durch diese Aussicht nicht von dem abschrecken, was sie für unvermeidbar hielt und was die USA von Großbritannien und, im Prinzip jedenfalls, von allen europäischen Kolonialmächten erwarteten: die Trennung von Kolonien, die nach Unabhängigkeit strebten. Im Fall Indiens hatten sich die materiellen Gewichte zwischen der Kolonialmacht und der Kolonie inzwischen nachhaltig verschoben: Großbritannien war der Schuldner, Indien der Gläubiger. Es verfügte in London über ein Guthaben von 1,3 Milliarden Pfund Sterling. Die britischen Exporte nach Indien, die 1914 noch zwei Drittel der indischen Einfuhren ausgemacht hatten, waren bis 1940 auf 8 Prozent der Gesamteinfuhr gesunken.
Schließlich lag es, wie der Historiker Peter Wende in seinem Buch über das britische Empire schreibt, auf der Hand, «daß die Briten nicht mehr über ausreichende Ressourcen verfügten, um etwa in künftigen Krisensituationen ihre Herrschaft im Lande mit Gewalt aufrechterhalten zu können. Nach den Erfahrungen des Krieges betrachtete die britische Regierung die Indische Armee nicht länger als ihr zuverlässiges Machtinstrument zur Unterdrückung eines eventuellen Aufstands. Die wachsende Beteiligung von Indern an der Verwaltung reduzierte zudem die Chancen von britischen Karrieren im Kolonialdienst. Während über lange Zeit der Indian Civil Service englischen Universitätsabsolventen vorbehalten geblieben war, zählte er 1947 neben 429 britischen nun 510 Beamte indischer Herkunft … Es war keine spektakuläre militärische Niederlage, wohl aber eine fortschreitende Erosion der Macht, die den Rückzug der Briten zur politischen Notwendigkeit werden ließ.»
Großbritannien war durch den Zweiten Weltkrieg so geschwächt, daß es sich eine Serie langwieriger und kostspieliger Kolonialkriege gar nicht mehr leisten konnte – vom fehlenden Willen der Bevölkerung, solche Kriege zu unterstützen, ganz zu schweigen. Der Entstehung der neuen, aus mörderischen Kämpfen hervorgegangenen Staaten Indien und Pakistan folgte Anfang 1948 die Entlassung von zwei weiteren asiatischen Kolonien in die Unabhängigkeit: Birma und, sehr viel weniger konfliktreich, Ceylon. Wie Indien und Pakistan wurde Ceylon (Sri Lanka) als Dominion Mitglied des Commonwealth, während Birma darauf verzichtete. Die britische Herrschaft in Asien war damit noch nicht beendet. Malaya, Singapur und Nord-Borneoblieben vorerst Kolonien Großbritanniens; die Unabhängigkeit erlangten Malaya 1957, Singapur 1963 und Brunei 1984. Die Kronkolonie Hongkong wurde 1997 nach Ablauf des auf 99 Jahre befristeten Pachtvertrages von 1898 an China zurückgegeben. In Afrika kam es in den fünfziger Jahren in einer Kolonie, Kenia, zu einem blutigen Aufstand gegen die britische Herrschaft. In den sechziger Jahren wurde eine britische Kolonie nach der anderen in die Unabhängigkeit entlassen. Nur in Südrhodesien (Simbabwe) konnten die weißen Siedler diesen Schritt bis 1980 verhindern.
Das Vereinigte Königreich gehörte unzweifelhaft zu den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs, und deshalb fiel es ihm leichter, sich von seinem Kolonialreich zu verabschieden, als Frankreich. Die Vierte Republik setzte geradezu verbissen auf die Wahrung des überseeischen Besitzstandes, den sie von der Dritten Republik und, im Falle Algeriens, von der restaurierten Bourbonen- und der Julimonarchie geerbt hatte. Die Behauptung dieser Gebiete trug stark kompensatorische Züge: Die Kolonien, Protektorate und das der France métropolitaine einverleibte Algerien schienen etwas von jener «gloire» zu verbürgen, die Frankreich nach der dramatischen Niederlage von 1940 und der deutschen Besatzungsherrschaft mehr denn je zu benötigen glaubte. Es war eine kostspielige und mit hohen Verlusten an Menschenleben verbundene Illusion, der die französischen Nachkriegsregierungen anhingen. Ironischerweise bedurfte es der Rückkehr des Kriegshelden und nationalen Heros Charles de Gaulle an die Macht im Jahre 1958, um Frankreich mit der Tatsache zu versöhnen, daß es keine andere Zukunft als die eines rein europäischen Landes hatte. Mit der Gewährung der vollen Unabhängigkeit an Algerien im Jahr 1962 ging die französische Kolonialherrschaft in Afrika zu Ende.
1960, im gleichen Jahr wie die meisten französischen Kolonien Schwarzafrikas, wurde Belgisch-Kongo in die Unabhängigkeit entlassen, womit
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