Geschichte des Westens
Antikolonialismus der Sowjetkommunisten war ihm durchaus sympathisch, ja ein willkommenes Gegengewicht zu Churchills Imperialismus. Hitler war der Feind schlechthin: Nichts an ihm, seinem Regime und seiner Weltanschauung bot Anknüpfungspunkte für die amerikanische Politik. Mit Stalin hingegen konnte manhandelseinig werden, und das möglichst über die Zeit der Waffenbrüderschaft hinaus. Die USA und die Sowjetunion würden aus dem Zweiten Weltkrieg als die beiden Weltmächte der Nachkriegszeit hervorgehen: Von ihrem Willen zur Verständigung und zur Zusammenarbeit hing aus Roosevelts Sicht künftig die Aufrechterhaltung des Weltfriedens in erster Linie ab.
Der Soziologe M. Rainer Lepsius hat Kommunismus und Faschismus die «beiden großen Bewegungen des 20. Jahrhunderts gegen die parlamentarische Demokratie, gegen das Projekt der Zivilgesellschaft» genannt. In der Tat bildeten nicht nur der italienische Faschismus und der deutsche Nationalsozialismus, sondern auch der russische Bolschewismus radikale Negationen des normativen Projekts des Westens, wie es aus den atlantischen Revolutionen des späten 18. Jahrhunderts hervorgegangen war. Die beiden ideologischen Antipoden standen diesem Projekt jedoch in einer asymmetrischen Distanz gegenüber. Die Faschismen verwarfen das Erbe von 1789 total und standen insofern in einer Traditionslinie, die sie mit der katholischen und der romantischen Gegenrevolution des frühen 19. Jahrhunderts verband. Die Bolschewisten hingegen sahen sich als die Erben des äußersten linken Flügels der Französischen Revolution, der «Verschwörung der Gleichen» um François Noël («Gracchus») Babeuf, der als erster die vollständige Abschaffung des Privateigentums an den Produktionsmitteln und die Errichtung einer kommunistischen Gesellschaft gefordert hatte. Für individuelle Freiheit war in dieser revolutionären Denktradition kein Platz.
Vier Jahre lang, von 1941 bis 1945, gelang es, den ideologischen Gegensatz zwischen den westlichen Demokratien und dem totalitären Sowjetsystem im Zeichen des gemeinsamen Gegensatzes zum anderen totalitären Regime, dem des Nationalsozialismus, notdürftig zu neutralisieren. In dieser Zeit sahen sich die angelsächsischen Mächte genötigt, Positionen preiszugeben, zu denen sie sich in der Atlantik-Charta vom 14. August 1941 feierlich bekannt hatten: Sie opferten, ohne daß sie sich dessen damals schon bewußt gewesen wären, das Selbstbestimmungsrecht der Völker Ostmittel- und Südosteuropas auf dem Altar einer Zusammenarbeit, in die sie von Hitler hineingezwungen worden waren. Als ihm die fatalen Folgen dieser Politik in den letzten Kriegswochen klar wurden, erhob Churchill Protest, konnte damit aber keine Korrektur mehr bewirken. Die Bruchlinien der Nachkriegszeit warenim Frühjahr 1945 deutlich zu erkennen: Europa war gespalten in einen Teil, in dem sich die Versprechungen der Atlantik-Charta erfüllen konnten, und einen anderen Teil, dem diese Chance verwehrt war.
Mit dem gemeinsamen Sieg über das nationalsozialistische Deutschland entfiel die «realpolitische» Klammer, die die westlichen Demokratien und die Sowjetunion vorübergehend zusammengehalten hatte. Es war nur eine Frage der Zeit, wann der ideologische Konflikt zwischen den beiden «Welten» voll entbrennen würde. Der Historiker Dan Diner sieht im Gegensatz von «Freiheit» und «Gleichheit» die «zentrale Deutungsachse» für das Verständnis des 20. Jahrhunderts, wobei «Gleichheit» im sowjetischen Verständnis nicht die liberale Gleichheit vor dem Gesetz und auch nicht die «sozialdemokratische» Chancengleichheit, sondern die absolute Gleichheit im Sinn der radikalen Abschaffung von klassenbedingter Ungleichheit bedeutet.
Für diesen Gegensatz scheint Diner die «Metapher vom Weltbürgerkrieg» angemessen. «Die Welt war politisch von einem geschichtsphilosophisch aufgeladenen Antagonismus der Werte durchwirkt. Er durchschnitt die ihm vorausgehenden staatlichen wie nationalen Loyalitäten vertikal und entsprach somit der aus dem 19. Jahrhundert herüberragenden Entgegensetzung von Freiheit und Gleichheit, von Bourgeoisie und Proletariat, von Revolution und Konterrevolution. Auch die Dekolonisation machte sich die politische Sprache des vergangenen Saeculums zu eigen, griff auf die Nomenklatur von 1789 zurück, als in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ganze Kontinente zum revolutionären Subjekt erhoben wurden und in geschichtsphilosophischer Anlehnung an
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