Geschichte des Westens
beanspruchten den ganzen Menschen und versprachen für die Zukunft einen nach ihren Vorstellungen geformten «neuen» Menschen. Dieser totale Anspruch unterschied die neuen Diktaturen in Italien und der ebenfalls 1922 entstandenen Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken von herkömmlichen autoritären Regimen, etwa Militärdiktaturen. Italien war das erste Land, in dem der neue Regimetyp von liberalen und sozialistischen Kritikern als «totalitär» bezeichnet wurde – ein Begriff, den Mussolini übernahm und der später von Wissenschaftlern angewandt wurde, um damit zu kennzeichnen, was Faschismus, Nationalsozialismus und Bolschewismus gemeinsam war: das Macht- und Propagandamonopol
einer
Partei, die konsequente Ausschaltung jeder Art von Gewaltenteilung, die Unterdrückung aller Formen von Opposition, die Allgegenwart der Geheimpolizei und des Terrors, die Entrechtung des Einzelnen, die Mobilisierung der Massen und der Kult um den Mann an der Spitze.
Italien war 1922 ein erst teilweise industrialisiertes, immer noch stark von der Landwirtschaft geprägtes Land. In manchen Teilen des Mezzogiorno, so in Kalabrien, bestand die Bevölkerung zu Beginn der zwanziger Jahre nach wie vor mehrheitlich aus Analphabeten (im nationalen Durchschnitt waren es 1921 27 Prozent). Wenn also Rückständigkeitauch in Italien zum Hintergrund für das Scheitern der Demokratie und die Entstehung einer rechtsgerichteten Diktatur gehörte, dann war ebendies ein Grund, eine ähnliche Entwicklung in Deutschland für eher unwahrscheinlich zu halten. Deutschland war ein hochentwickeltes Industrieland, in dem seit langem die allgemeine Schulpflicht galt. Als «rückständig» wurde hier vor allem das vom Großgrundbesitz geprägte platte Land Ostelbiens und namentlich das vom übrigen Deutschland abgetrennte Ostpreußen betrachtet, das nur dank großzügiger Finanzhilfen aus Preußen und dem Reich wirtschaftlich überleben konnte. Ein krasses regionales Bildungsgefälle wie in Italien aber gab es in Deutschland nicht.
Daß in Deutschland eine Bewegung, die sich am Vorbild der italienischen Faschisten orientierte, nach 1930 zur stärksten Partei aufstieg, hatte viel mit der Ungleichzeitigkeit des deutschen Demokratisierungsprozesses zu tun. Nachdem das parlamentarische System an der fehlenden Kompromißbereitschaft der gemäßigten Parteien gescheitert war, wuchs Hitlers Nationalsozialisten eine einzigartige Chance zu: Sie konnten fortan einerseits an das verbreitete Ressentiment gegenüber der westlichen Demokratie und andererseits an den seit Bismarcks Zeiten verbrieften Teilhabeanspruch des Volkes in Gestalt des allgemeinen gleichen Wahlrechts appellieren – ein Recht, das von den seit 1930 regierenden halbautoritären Präsidialkabinetten weithin um seine politische Wirkung gebracht wurde.
Es war der pseudodemokratische «appel au peuple», der Hitlers radikales Nein zu Weimar von dem der traditionellen Rechten unterschied. Diese Rechte hatte bisher überwiegend eine autoritäre Krisenlösung angestrebt – ein Vorhaben, das das Land in einen blutigen Bürgerkrieg zu stürzen drohte. Um die Jahreswende 1932/33 setzte sich bei einem Teil der Konservativen die Auffassung durch, daß in einem Land mit langer demokratischer Wahlrechtstradition wie Deutschland der geplante Regimewechsel eines breiten Massenrückhalts bedurfte. Weil Hitler als Führer der stärksten «nationalen» Partei geeignet erschien, diesen Rückhalt zu gewährleisten, und sich zudem bereit erklärte, die Macht mit den Konservativen zu teilen, verhalf ihm die etablierte Rechte mit dem Reichspräsidenten von Hindenburg an der Spitze am 30. Januar 1933 zur Kanzlerschaft.
Mit dem italienischen Faschismus verband den deutschen Nationalsozialismus vieles: Beide Bewegungen huldigten einem extremenNationalismus. Beide waren radikal antimarxistisch und antiliberal. Sie gingen mit einer bisher ungekannten Brutalität gegen politische Gegner vor, betrieben einen Heroenkult um ihren Führer, verherrlichten Jugend, Männlichkeit und soldatische Tugenden. Sie schalteten, nachdem sie an die Macht gelangt waren, alle Kräfte und Institutionen aus, die sich ihnen in den Weg stellten, und erzeugten durch eine Mischung aus Propaganda und Terror eine akklamierende Pseudoöffentlichkeit, die keinen Widerspruch duldete und dem Regime den Schein einer plebiszitären Legitimation verschaffte.
Was die fortschreitende Verdrängung der traditionellen Eliten anging, war der
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