Geschichte des Westens
Modernisierungsdiktaturen, wohl aber beide, wie Wolfgang Schieder feststellt, Ausdruck von Modernisierungskrisen – der Krisen zweier erst spät zu staatlicher Einheit gelangten Nationen, die ihre gesellschaftlichen Probleme nicht mit demokratischen Mitteln zu bewältigen vermochten und zutiefst unzufrieden waren mit dem Platz, der ihnen in der Nachkriegsordnung zugewiesen worden war.
Die Krise der europäischen Demokratie in der Zwischenkriegszeit beschränkte sich nicht auf die Länder, die zu autoritären oder faschistischen Diktaturen übergingen. Sie erfaßte auch die meisten Länder, die auf ältere demokratische Traditionen zurückblicken konnten. Der Erste Weltkrieg hatte dem Glauben an die Vernunft einen schweren Schlag versetzt und nationalistische Leidenschaften erzeugt, die fortwirkten, als die Waffen endlich schwiegen. Der Krieg hatte aber auch Haß hervorgerufen auf die, die man für das Massensterben verantwortlich machte, die es rechtfertigten oder an ihm verdienten. Eine Rückkehr zur Normalität war nach 1918 auch dort schwer, wo man seit langem gewöhnt war, politische Konflikte auf der parlamentarischen Bühne im friedlichen Austausch der Argumente auszutragen. Die Besitzenden fürchteten sich überall vor der erstarkten Arbeiterbewegung, ihren Gewerkschaften und Parteien; eine Majorisierung des Bürgertums durch die Linke erschien nach 1918 sehr viel wahrscheinlicher als vor 1914.
Gleichwohl scheiterte die parlamentarische Demokratie nur dort, wo sie erst 1918/19 eingeführt worden war oder über kein breites Fundament in der Gesellschaft verfügte. In älteren Demokratien konnten faschistische Bewegungen keine Massenbasis wie in Deutschland oder Italien hinter sich bringen. Wo es den Kommunisten, wie in Frankreich, gelang, einen erheblichen Teil der Arbeiterklasse hinter sich zu vereinigen, waren sie doch nicht in der Lage, die Sozialisten auf den zweiten Platz zu verweisen. Kritik von rechts an Parlamentarismus und Demokratie gab es auch in Frankreich und in Großbritannien, und sie fand ihr Publikum. Aber anders als die «Konservative Revolution» in Deutschland konnte die intellektuelle junge Rechte weder diesseits noch jenseits des Ärmelkanals die Meinungsführerschaft erringen. Sie vertrat eine Denkrichtung unter anderen.
Von der Weltwirtschaftskrise, in deren Verlauf Deutschland seinparlamentarisches System preisgab und sich einer totalitären Diktatur von rechts zuwandte, waren Großbritannien und die USA kaum weniger betroffen als das Deutsche Reich. In den beiden angelsächsischen Ländern blieb die Demokratie erhalten; sie erneuerte und festigte sich durch wirtschaftliche und soziale Reformen. In der Depressionszeit erwiesen alte freiheitliche Prägungen ihre Beharrungskraft. Wo das normative Projekt des Westens tiefe Wurzeln geschlagen hatte und das politische Denken der Regierenden wie der Regierten bestimmte, bewährte es sich auch in der bislang ernstesten Herausforderung des Westens: der Großen Krise seit 1929.[ 2 ]
Wenn irgend etwas dem «Dritten Reich» Adolf Hitlers nach 1933 Sympathien in konservativen Kreisen des Westens einbrachte, dann war es sein militanter Antibolschewismus. Die britische Appeasement-Politik in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre beruhte zu guten Teilen auf der Annahme, daß diese Gegnerschaft unverrückbar war und darum als Grundlage einer begrenzten Zusammenarbeit zwischen London und Berlin dienen konnte. Der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt vom 23. August 1939 entlarvte diese Einschätzung als Ausdruck von Wunschdenken. Daß dem machtpolitischen Arrangement zwischen Hitler und Stalin keine Dauer beschieden sein würde, war unschwer vorherzusagen. Der deutsche Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 eröffnete Großbritannien die Chance, den Kampf gegen das nationalsozialistische Deutschland mit einem starken Verbündeten weiterzuführen. Daß der konservative Churchill ein geschworener Gegner des revolutionären Bolschewismus war, fiel dabei nicht ins Gewicht. Solange es um das Sein oder Nichtsein Großbritanniens und seines Empire ging, mußte das ideologisch Trennende hinter dem gemeinsamen Interesse, der raschen und vollständigen Niederwerfung des deutschen Aggressors, zurücktreten.
Franklin Delano Roosevelt schien der Gedanke, mit Stalin gegen Hitler zusammenzugehen, keinerlei ideologische Skrupel zu bereiten. Der amerikanische Präsident sah in der Sowjetunion mittlerweile eine kalkulierbare Größe; der
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