Geschichte des Westens
und der Proklamation der ersten Münchner Räterepublik fiel eine Sitzung des Kabinetts Scheidemann, in der es unter anderem um die Frage ging, wie Deutschland sich bei den bevorstehenden Friedensverhandlungen zur Kriegsschuldfrage äußern sollte. Mit der Edition der einschlägigen deutschen Akten hatte der Rat der Volksbeauftragten noch im November den Unabhängigen Sozialdemokraten Karl Kautsky, damals Beigeordneter im Auswärtigen Amt, und den Mehrheitssozialdemokraten Max Quarck, zu dieser Zeit Beigeordneter im Reichsamt des Innern, beauftragt. Ende März stand Kautskys Arbeit kurz vor dem Abschluß. Reichspräsident Ebert, der an der Kabinettssitzung teilnahm, empfahl, die «Sünden der alten Regierung aufs schärfste (zu) verurteilen» und die Stellung der neuen Regierung in einer Denkschrift dazulegen. Die meisten Minister stimmten Ebert zu, Reichsfinanzminister Eugen Schiffer von der DDP, der bis 1918 zu den Nationalliberalen gehört hatte, warnte aber dringend vor einem Schuldbekenntnis, das dem deutschen Volk die letzte Selbstachtung nehmen und die Gegner triumphieren lassen würde. Reichsministerpräsident Scheidemann hielt es nicht für notwendig, sich an der Kontroverse zu beteiligen.
Als sich das Kabinett am 18. April 1919 erneut mit der Kriegsschuldfrage befaßte, lag Kautskys Aktenedition vor. Die Dokumente ließen keinen Zweifel daran, daß die Reichsleitung in der Julikrise von 1914 Österreich-Ungarn in den Krieg mit Serbien gedrängt und damit die Hauptverantwortung für die Auslösung des Weltkrieges auf sich geladen hatte. Für eine Veröffentlichung der Aktensammlung sprach sich der sozialdemokratische Reichsminister ohne Geschäftsbereich Eduard David aus, dagegen Reichsjustizminister Johannes Bell vom Zentrum. Scheidemann verzichtete abermals darauf, in die Debatte einzugreifen. Am Ende empfahl er, gegen den Widerspruch Davids, von einer Publikation vorläufig abzusehen.
Eine Veröffentlichung wäre der von Ebert geforderte moralische Bruch mit dem alten Regime gewesen. Was ein derart mutiger Akt politisch bewirkt haben würde, darüber kann nur spekuliert werden. Auf das Eingeständnis einer wesentlichen deutschen Mitschuld, ja Hauptschuld am Krieg hätte die nationalistische Rechte mit einem Aufschreider Empörung reagiert, die Behauptung, daß die Entente Deutschland den Krieg aufgezwungen habe, wäre ihr aber erschwert worden. Bei den Siegermächten hätte eine offene deutsche Selbstkritik vermutlich die verständigungsbereiten Kräfte auf der Linken gestärkt, die Regierungsvertreter, die in Paris über den Friedensvertrag berieten, aber wohl kaum beeindruckt.
Der moralische Bruch mit dem Kaiserreich unterblieb auch deshalb, weil die meisten Sozialdemokraten Verratsvorwürfe und eine kritische Debatte über die Burgfriedenspolitik fürchteten. Das Schweigen hatte schwerwiegende Folgen. Von der Regierung Scheidemann über die deutsche Politik im Juli 1914 im Unklaren gelassen, war die deutsche Öffentlichkeit nicht im mindesten auf das vorbereitet, was sie erwartete, als die Pariser Beratungen über die Friedensbedingungen der Alliierten Anfang Mai 1919 zu Ende gingen.[ 1 ]
Vorbelastete Neuanfänge:
Österreich und Ungarn 1918/19
Bewegt verliefen die ersten Monate der unmittelbaren Nachkriegszeit auch in Österreich. An der Spitze einer Regierung aus Sozialdemokraten, Christlichsozialen und großdeutschen Deutschnationalen stand seit dem 30. Oktober 1918 als Staatskanzler der Sozialdemokrat Karl Renner. Eine der ersten Amtshandlungen seiner Regierung war die Einholung von Beitrittserklärungen zur Republik Deutschösterreich durch die Landtage der Länder. Die Nachfolge des am 11. November verstorbenen Außenministers (oder, wie es zunächst offiziell hieß, Staatssekretärs) Victor Adler, des Gründers und langjährigen Parteivorsitzenden der Sozialdemokraten, übernahm am 21. November der «linke» Otto Bauer, der maßgebende Theoretiker des Austromarxismus, Verteidiger des Selbstbestimmungsrechtes der slawischen Völker und entschiedene Befürworter eines Anschlusses von Deutschösterreich an Deutschland, wie ihn die Provisorische Nationalversammlung schon am 12. November einstimmig beschlossen hatte.
Anders als in Deutschland wurde in Österreich in der revolutionären Übergangsphase zwischen dem Sturz der Monarchie und der Wahl der Konstituierenden Nationalversammlung das Militärwesen gründlich reformiert. Bereits am 8. November hatte der im Kriegsministerium
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