Geschichte des Westens
hinüberzuretten, als der Republik gut tat. Den Bürgerkrieg zu vermeiden war für Ebert und seine politischen Freunde zu einem kategorischen Imperativ geworden. Das war ebenso verantwortungsbewußt wie die aus dieser Einsicht abgeleitete Bereitschaft, mit gemäßigten bürgerlichen Kräften zusammenzuarbeiten. Anders war der Aufbau einer deutschen Demokratie in der Tat nicht zu bewerkstelligen. Daß dies eine vom obrigkeitsstaatlichen Erbe geprägte und damit vorbelastete Demokratie sein würde, haben gemäßigte Unabhängige Sozialdemokraten wie Haase und Hilferding sehr viel klarer gesehen als die mehrheitssozialdemokratischen Praktiker Ebert und Scheidemann.
Am 10. Februar verabschiedete die Nationalversammlung das von Hugo Preuß ausgearbeitete Gesetz über die vorläufige Reichsgewalt, also die provisorische Verfassung. Tags darauf wählten die Abgeordneten Friedrich Ebert zum vorläufigen Reichspräsidenten. Dieser beauftragte am 11. Februar Philipp Scheidemann mit der Regierungsbildung. Am 13. Februar konnte das Kabinett des sozialdemokratischen Reichsministerpräsidenten, bestehend aus Ministern der SPD, des Zentrums und der DDP sowie dem parteilosen Außenminister Ulrich Graf von Brockdorff-Rantzau, seine Arbeit aufnehmen.
Die größte innenpolitische Herausforderung der Regierung war die Streikbewegung, die Deutschland in den ersten Monaten des Jahres 1919 erschütterte. Sie begann Ende Dezember 1918 im Ruhrgebiet und griff im Februar 1919 auf Mitteldeutschland über. Ihr Ziel war die Sozialisierung des Bergbaus, wobei die Vorstellungen von der Art der Vergesellschaftung weit auseinandergingen. Die mitteldeutschen Streiks endeten am 8. März, nachdem die Regierung Scheidemann die gesetzliche Einführung von Betriebsräten und die «Sozialisierung» der Kohle- und Kalisyndikate versprochen hatte. Im Ruhrgebiet weitete sich der Streik zum Generalstreik aus, auf den die Regierung mit der Entsendung von Truppen reagierte. Die heftigsten Kämpfe fanden Anfang März in Berlin statt. Der neue Reichswehrminister Gustav Noske erließ am 9. März einen durch kein Gesetz gedeckten Schießbefehl, wonach jede Person, die mit der Waffe in der Hand gegen Regierungstruppen kämpfend angetroffen wurde, sofort zu erschießen war. Rund 1000 Menschen kamen bei den Berliner Märzkämpfen ums Leben.
Die großen Streiks vom Frühjahr 1919 bildeten einen Teil der zweiten Phase der deutschen Revolution. In dieser Phase, die Anfang Mai zu Ende ging, versuchte der radikale Teil des Proletariats die gesellschaftlichen Veränderungen zu erzwingen, die die erste Phase nicht gebracht hatte. Die Ergebnisse blieben weit hinter den Erwartungen der äußersten Linken zurück. Die «Sozialisierung», wie sie in mehreren Gesetzen vom März und April 1919 Gestalt annahm, änderte nichts an den Eigentumsverhältnissen im Kohlen- und Kalibergbau. Die wichtigste Errungenschaft, die in den Frühjahrskämpfen von 1919 ihren Ursprung hatte, und zugleich das einzige bleibende Ergebnis der deutschen Rätebewegung von 1918/19 war das heiß umstrittene, von der Rechten wie von der äußersten Linken heftig bekämpfte Betriebsrätegesetz vom Februar 1920. Es führte für Betriebe mit mindestens 20 Beschäftigten Betriebsräte ein, die bei der Einstellung und Entlassung von Arbeitskräften mitentscheiden durften und gegenüber dem Arbeitgeber einen weitreichenden Anspruch auf Information über Betriebsvorgänge besaßen. Das Gesetz wurde zur Magna Charta der innerbetrieblichen Mitbestimmung und trug erheblich dazu bei, daß Deutschland zu einem Pionierland der Wirtschaftsdemokratie wurde.
Zur zweiten Phase der deutschen Revolution gehörten auch die beiden Münchner Räterepubliken. Die Vorgeschichte der ersten begann am 21. Februar 1919 mit der Ermordung des bayerischen MinisterpräsidentenKurt Eisner: Er wurde auf dem Weg zum Landtag, wo er angesichts der verheerenden Niederlage der von ihm geführten USPD bei den Landtagswahlen vom 12. Januar seinen Rücktritt als Regierungschef erklären wollte, von dem Jurastudenten und beurlaubten Leutnant Anton Graf von Arco-Valley erschossen. Die Folge war eine politische Radikalisierung, die auch Teile der MSPD erfaßte. Am 3. April sprachen sich die Augsburger Räte, angeregt durch die Proklamation der ungarischen Räterepublik unter dem Kommunisten Béla Kun, für eine Räterepublik Bayern aus. In der Nacht vom 6. zum 7. April schloß sich der nach Eisners Ermordung gebildete, von dem linken
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