Geschichte des Westens
Errichtung der Rätediktatur und der Bildung einer paritätischen Regierung einzugehen. An ihre Spitze trat noch am selben Abend nominell der Sozialdemokrat Alexander Garbai. Die faktische Führung und das Amt des Volkskommissars für auswärtige Angelegenheiten übernahm Béla Kun, der unmittelbar zuvor aus dem Gefängnis entlassen worden war. Volkskommissar für das Unterrichtswesen wurde der junge marxistische Philosoph Georg Lukács.
Die Bolschewiki, die in jenen Tagen in Moskau ihren 8. Parteitag abhielten, reagierten enthusiastisch: Béla Kun war ihr Vertrauensmann und Ungarn das erste mitteleuropäische Land, in dem das russische Beispiel Schule zu machen schien. Am 27. März 1919, als das ungarische Räteregime bereits über zwei Monate an der Macht war, beglückwünschte Lenin die ungarischen Arbeiter zu ihrem großen Erfolg: «Ihr habt der Welt ein noch besseres Vorbild gegeben als Sowjetrußland, daihr verstanden habt, mit einem Schlage alle Sozialisten auf der Basis des Programms einer wahrhaft proletarischen Diktatur zu vereinigen.» Tatsächlich hatte die ungarische Räteregierung inzwischen eine große Zahl von industriellen Unternehmungen sozialisiert und den Großgrundbesitz enteignet, das Land allerdings nicht an die Bauern verteilt, sondern im Staatsauftrag durch die bisherigen Eigentümer verwalten lassen, was zu großer Unzufriedenheit der Bauern führte.
Populär war hingegen die ausgeprägt «nationalbolschewistische» Politik der Räteregierung: Sie betrieb die Wiederherstellung Groß-Ungarns unter dem Banner des Kampfes gegen die westlichen Imperialisten und die von ihnen unterstützten Nachbarstaaten Ungarns. Vorschläge für einen friedlichen Ausgleich der Grenzkonflikte, die der britische General (und spätere südafrikanische Premierminister) Jan Christiaan Smuts Anfang April namens der in Paris tagenden Siegermächte unterbreitete, wies Kun zurück. Am 20. April beschloß der Zentrale Soldaten-, Arbeiter- und Bauernrat den Verteidigungskrieg zum Schutz der Errungenschaften der proletarischen Diktatur und ordnete an, daß die Hälfte der Belegschaften aller Betriebe für den Kampf gegen die tschechischen, rumänischen und südslawischen Truppen zu den Waffen greifen sollten. Im Mai gelang es der von dem sozialdemokratischen Volksbeauftragten Wilhelm Böhm befehligten Roten Armee, tschechische Einheiten, die von französischen Offizieren geführt wurden, zu schlagen und vorübergehend große Teile der Slowakei zu erobern.
Damit waren die militärischen Kräfte des Revolutionsheeres aber auch erschöpft. Anfang Juni bildete sich im südungarischen Szeged, das unter französischer Militärverwaltung stand, eine «weiße» Gegenregierung unter Graf Gyula Károlyi, einem nahen Verwandten des früheren Präsidenten, mit Graf Teleki als Außenminister und dem ehemaligen Oberbefehlshaber der österreichisch-ungarischen Kriegsmarine, Admiral Miklós Horthy, als Kriegsminister. Rumänische Truppen, die bereits im April mit der Invasion Südungarns begonnen hatten, drangen im Sommer 1919 immer weiter in Richtung Budapest vor. Vergeblich bat Kun Lenin um eine Entlastungsoffensive gegen Rumänien. Ende Juli löste sich die Rote Armee, von den Rumänen in die Flucht gejagt, auf. Am 1. August liquidierte Kun das Rätesystem. Er veranlaßte den Arbeiterrat, die Regierungsgewalt an ein Kabinett aus gemäßigten Gewerkschaftsführern zu übertragen. Die Schuld am Scheitern der Diktatur des Proletariats gab er den Arbeitern, die nichtrevolutionär genug gewesen seien und jetzt durch eine grausame Diktatur der Bourgeoisie lernen müßten, revolutionär zu werden. Unmittelbar nach seinem Rücktritt begab sich Kun zusammen mit einigen seiner Gefolgsleute nach Österreich, wo er dank sozialdemokratischer Vermittlung Asyl erhielt.
Am 3. August wurde Budapest von rumänischen Truppen besetzt. Tags darauf wurde die Gewerkschaftsregierung von einer rechtsstehenden Gruppierung gestürzt, woraufhin die Regierung in Szeged zugunsten des neuen bürgerlichen Kabinetts zurücktrat. Am 5. August nahm eine Mission der Entente ihre Arbeit in Budapest auf; sie erkannte die neue Regierung nicht an, ließ sich aber auf Verhandlungen mit Admiral Horthy, dem Oberbefehlshaber der von Szeged aus aufgestellten Nationalarmee, ein.
Mitte November 1919 mußten die rumänischen Truppen auf Weisung der Verbündeten aus Budapest abziehen; kurz darauf durften Horthys Verbände in der Hauptstadt einmarschieren. Zusammen mit
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