Geschichte des Westens
hatte sich jedoch bereits, ebenso wie Brockdorff-Rantzau, derart entschieden auf ein Nein festgelegt, daß er nur noch die Möglichkeit des Rücktritts sah. Am 26. Juni vollzog er diesen Schritt. Seine Nachfolge trat ein politisch farbloser Mehrheitssozialdemokrat an: der bisherige Arbeitsminister und vormalige zweite Vorsitzende der Generalkommission der Freien Gewerkschaften, Gustav Bauer. Neuer Außenminister wurde der sprachkundige Hermann Müller, der kurz zuvor zum Vorsitzenden der SPD gewählt worden war. Die DDP gehörte, anders als das Zentrum, der Regierung Bauer nicht mehr an.
Am 22. Juni stimmte die Nationalversammlung mit der Mehrheit von 237 zu 138 Stimmen bei sechs Stimmenthaltungen einer Unterzeichnung des Friedensvertrages unter den beiden Vorbehalten in der Kriegsschuld- und in der Kriegsverbrecherfrage zu. Die Antwort der Verbündeten kam prompt – in Form eines Ultimatums, den Vertrag innerhalb von 24 Stunden vorbehaltlos zu unterzeichnen. Die Nationalversammlung mußte also am 23. Juni erneut und diesmal endgültig entscheiden.
Alles hing nun vom Zentrum ab. Ein Ja zur vorbehaltlosen Annahme wurde den Parlamentariern der katholischen Fraktion dadurch erleichtert, daß Groener in einem Telegramm die Aussichtslosigkeit militärischer Kampfmaßnahmen betonte und die rechten Oppositionsparteien, die Deutschnationalen und die Deutsche Volkspartei, in einer Erklärung ausdrücklich die «vaterländischen Gründe» derjenigen Abgeordneten anerkannten, die für die Annahme stimmten. Für ein Ja sprachen sich in namentlicher Abstimmung schließlich die beiden sozialdemokratischen Parteien, die Mehrheit des Zentrums und eine Minderheit der DDP aus, für ein Nein die DNVP, die DVP, eine Mehrheitder DDP und eine Minderheit des Zentrums. Am 28. Juni setzten Außenminister Hermann Müller von der SPD und Verkehrsminister Johannes Bell vom Zentrum im Spiegelsaal des Schlosses von Versailles, dem Ort der Kaiserproklamation von 1871, ihre Unterschriften unter den Friedensvertrag.
Die tiefe und langanhaltende Entrüstung über das «Diktat von Versailles» hatte viel damit zu tun, daß sich die Regierung Scheidemann, entgegen dem Drängen von Reichspräsident Ebert, geweigert hatte, die von Karl Kautsky gesammelten deutschen Dokumente zum Kriegsausbruch zu veröffentlichen und so die Deutschen auf das vorzubereiten, was sie seitens der Sieger erwartete. Auch in der Sozialdemokratie wünschte im Frühjahr und Sommer 1919 eine große Mehrheit keine offene und selbstkritische Auseinandersetzung mit der Kriegsschuldfrage. Als Eduard Bernstein auf dem ersten Nachkriegsparteitag der SPD, der vom 10. bis 15. Juni 1919 in Weimar stattfand, die Delegierten aufrief, sich der «Frage der Schuld und der Verantwortung» zu stellen und sich nicht länger zu Gefangenen jener Abstimmung vom 4. August 1914 zu machen, in der die sozialdemokratische Reichstagsfraktion den Kriegskrediten zugestimmt hatte, wurde er förmlich niedergemacht – von Hermann Müller besonders heftig und mit unüberhörbaren antisemitischen Untertönen. Scheidemann übertrumpfte Müller noch, als er Bernstein einen «Advokaten des Teufels» nannte, der in seiner Übergerechtigkeit sogar schon die feindlichen Imperialisten verteidige.
Die Scheu, die Politik der Reichsleitung in der Julikrise von 1914 vorurteilsfrei zu betrachten, schlug auf der politischen Rechten rasch um in eine Leugnung der deutschen Kriegsschuld. In Abwehr der alliierten «Kriegsschuldlüge» begann eine Kriegsunschuldlegende zu wuchern, die sich ähnlich wie ihre Zwillingsschwester, die Dolchstoßlegende, als gefährliche Waffe im Kampf nicht nur mit «Versailles», sondern auch mit «Weimar» erwies. Der Behauptung, daß die Deutschen «im Felde unbesiegt» geblieben seien, hatte Friedrich Ebert Vorschub geleistet, als er, noch als Vorsitzender des Rats der Volksbeauftragten, am 10. Dezember 1918 heimgekehrten Truppenverbänden zurief: «Kein Feind hat Euch überwunden!» Ihre klassische Form erhielt die Dolchstoßlegende am 18. November 1919. An diesem Tag legte Hindenburg, der Ende Juni, zusammen mit Groener, sein Amt als letzter Chef der Obersten Heeresleitung niedergelegt hatte, vor demparlamentarischen Untersuchungsausschuß einem ungenannt bleibenden englischen General die Äußerung in den Mund, die deutsche Armee sei «von hinten erdolcht worden». Von hinten: Das hieß für die deutsche Rechte von der deutschen Linken, den «Marxisten» und «Bolschewisten»
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