Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Geschichte des Westens

Geschichte des Westens

Titel: Geschichte des Westens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
Vom Netzwerk:
oder, noch einfacher und immer häufiger, von den Juden.
    Doch nicht nur die deutsche Kriegsschuld von 1914 wurde von den meisten Deutschen verdrängt, sondern auch das Diktat, das das Kaiserreich im Frühjahr 1918 Rußland auferlegt hatte. Versailles war, was wirtschaftliche und territoriale Verluste anging, milder als Brest-Litowsk. Gerecht und klug war freilich weder der eine noch der andere Friedensschluß. Die Vertreter der Siegermächte standen, als sie an den Pariser Vorortverträgen arbeiteten, unter dem Druck ihrer Völker, die eine Bestrafung der ehemaligen Mittelmächte, obenan Deutschlands, und einen Ausgleich für erlittene Schäden verlangten. Die Sieger verstießen zu Lasten der Besiegten gegen das Selbstbestimmungsrecht der Völker, zum Beispiel im Fall des «polnischen Korridors», der Ostpreußen fortan vom Reich trennte: Im nördlichen Westpreußen war die deutsch- und nicht die polnischsprachige Bevölkerung in der Mehrheit. Aber hatten die Deutschen nicht, wo sie siegreich waren, dasselbe getan? Hatten sie Polen nicht seit dem späten 18. Jahrhundert das Recht auf staatliche Existenz bestritten? Und war ein lebensfähiger polnischer Staat ohne Zugang zur Ostsee, also auf Kosten von deutsch besiedelten Gebieten, überhaupt vorstellbar?
    In Deutschland wurde dem amerikanischen Präsidenten, auf den so viele ihre Hoffnungen gesetzt hatten, seit dem Bekanntwerden der Friedensbedingungen Verrat am obersten seiner eigenen Grundsätze, dem Selbstbestimmungsrecht der Völker, vorgeworfen. Wilson war in Deutschland fortan ähnlich verhaßt wie Clemenceau. Wilson hatte Frankreich Zugeständnisse machen müssen, aber das galt in der umgekehrten Richtung in noch höherem Maß. Die beiden angelsächsischen Mächte bewahrten Deutschland vor vielem, was es zu ertragen gehabt hätte, wenn der Friede allein von Frankreich diktiert worden wäre. Wilson mußte während der Pariser Verhandlungen auf die amerikanische Öffentlichkeit und namentlich auf den von den Republikanern beherrschten Senat Rücksicht nehmen, denn nur, wenn dieser mit Zweidrittelmehrheit zustimmte, traten internationale Verträge in Kraft. Wäre Wilson zu irgendeinem Zeitpunkt vor Abschluß der Verhandlungenunter Protest nach Washington zurückgekehrt, hätte er Clemenceau das Feld überlassen und in Europa ein Chaos angerichtet. In den letzten Konferenzwochen lautete, in den Worten des Historikers Klaus Schwabe, die Alternative, der sich Wilson gegenübersah, nicht mehr «Kompromißfrieden … oder Wilson-Frieden», sondern nur noch: «Kompromißfrieden oder gar kein Frieden.»
    Der Vertrag von Versailles war hart. Aber kaum jemand in Deutschland machte sich bewußt, daß alles noch viel schlimmer hätte kommen können. Das Reich blieb erhalten und das Rheinland ein Teil von Deutschland. Deutschland war nach wie vor das bevölkerungsreichste Land westlich der russischen Grenzen und die wirtschaftlich stärkste Macht Europas. In gewisser Weise hatte sich die außenpolitische Lage Deutschlands gegenüber der Zeit vor 1914 sogar verbessert: Der Konflikt zwischen den Westmächten und Sowjetrußland bedeutete, daß Deutschland keinen Grund mehr hatte, sich «eingekreist» zu fühlen. Und schon in Versailles waren die ersten Risse zwischen den westlichen Verbündeten, Frankreich auf der einen, England und den Vereinigten Staaten auf der anderen Seite, sichtbar geworden. Die Mitgliedschaft im Völkerbund war Deutschland vorerst noch verwehrt, aber dabei mußte es nicht bleiben. Deutschland hatte gute Aussichten, wieder zur europäischen Großmacht aufzusteigen. Es bedurfte nur der nüchternen Einsicht in die neue Lage, um «Versailles» in realistischen Proportionen zu sehen.
    Kritik am Friedensvertrag war nicht nur aus Deutschland zu hören. In den Staaten der Sieger waren es vor allem linksstehende Parteien und Zeitungen, die sich scharf ablehnend äußerten. Der «Daily Herald», das Blatt der Labour Party, schrieb nach der Bekanntgabe der Friedensbedingungen, diese verletzten alle Versprechungen; der geplante Völkerbund sei eine «Liga der Sieger ohne Seele» (a League of Victors without a soul). Der «Labour Leader», das Organ der Independent Labour Party, sah Wilsons Vierzehn Punkte mit «gefühlloser Verachtung» (callous contempt) behandelt. Der Führer der Mehrheit («ex-minoritaires») der französischen Sozialisten, Jean Longuet, verglich den Entwurf der Friedensbedingungen mit den Diktatfrieden von Tilsit im Jahre 1807 und

Weitere Kostenlose Bücher