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Geschichte des Westens

Geschichte des Westens

Titel: Geschichte des Westens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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Brest-Litowsk im Jahre 1918. Der «Avanti», das Sprachrohr des Partito Socialista Italiano, nannte den Vertragsentwurf unter Anspielung auf die demütigende Niederlage des italienischen Heeres vom Oktober 1917 ein «diplomatisches Caporetto» und sagte den Zusammenbruch derdemokratischen Ideologie voraus, die die kapitalistischen Regierungen nur benutzt hätten, um eine Weltkatastrophe mit 12 Millionen Toten zu rechtfertigen. In den USA meinte die linksliberale «Nation», Wilson habe Friedensbedingungen akzeptiert, die allen seinen Versprechungen Hohn sprächen, und sich damit als «Autokrat und ein sich selbst kompromittierender Politiker» erwiesen. Die «New Republic» bezeichnete den Vertragsentwurf als Karthagofrieden, der nur zum «Vorspiel von Streitigkeiten in einem tief gespaltenen und schrecklich verbitterten Europa» werden könne.
    Auch von der politischen Rechten in den Siegerstaaten war Kritik zu vernehmen. Sie unterschied sich freilich radikal von der der Linken. Der Historiker Jacques Bainville, einer der führenden Publizisten der «Action française», behauptete, dieser Friede sei «dafür, daß er so hart ist, zu weich». Deutschland werde als Großmacht überleben, die mit etwas Geduld auf die Befreiung von den Bedingungen hoffen könne, die sie infolge der militärischen Niederlage habe akzeptieren müssen. In 15 Jahren, also 1934, werde die entscheidende Kraftprobe kommen, wobei Deutschland sich wohl eher an Polen und der Tschechoslowakei rächen dürfte als an Frankreich. Vergleichsweise milde fiel der Tadel britischer Rechtsblätter aus. Die «Morning Post», die «Daily Mail» und der «Chronicle» fanden, daß die maritimen, militärischen territorialen Klauseln des Vertrags besser ausgefallen seien als erwartet. Dagegen blieben die finanziellen Entscheidungen weit hinter den Versprechungen aus der Zeit der Unterhauswahl vom Dezember 1918 zurück.
    Zu einem anderen, ja dem entgegengesetzten Schluß gelangte der Ökonom John Maynard Keynes, der als Finanzexperte und Vertreter des britischen Schatzkanzlers an den Beratungen des Großen Wirtschaftsrates in Paris teilgenommen hatte, bis er Anfang Juni 1919 seine Ämter aus Protest gegen den Vertrag von Versailles niederlegte. 1920 begründete er seine Kritik an der Arbeit der Friedenskonferenz in dem Buch «The Economic Consequences of the Peace», das kurz darauf auch ins Deutsche übersetzt wurde und in Deutschland auf breite Zustimmung stieß. «Paris» erschien Keynes rückblickend als «ein böser Traum» und jeder der maßgebenden Teilnehmer der Verhandlungen als ein «Kranker». Über Clemenceau, in dem er den bösen Geist der Friedenskonferenz sah, urteilte er sarkastisch, er sei einer Täuschung erlegen, Frankreich, und habe eine Enttäuschung erlebt, «die Menschheit,die Franzosen und nicht am wenigsten seine Beratungsgenossen eingeschlossen». Das Ziel des französischen Ministerpräsidenten und damit Frankreichs sei es gewesen, die Uhr so weit als möglich zurückzustellen und ungeschehen zu machen, was der Fortschritt Deutschlands seit 1870 vollbracht habe. Wilson porträtierte der Verfasser als weltfremden Idealisten, der den geistig beweglichen und gerissenen Machtpolitikern Clemenceau und Lloyd George von Anfang an unterlegen gewesen und darum zum Verlierer der Konferenz geworden sei.
    Die wichtigste Absicht, die Keynes mit dem Buch verfolgte, war der Nachweis, daß ein «Karthagofriede auch
praktisch
nicht richtig oder möglich ist». Der Grund dieser Unmöglichkeit war nach Meinung des Autors ein eklatanter Widerspruch der Ziele des Friedensvertrages: Einerseits enthalte er alles, was Deutschland in der Gegenwart berauben und seine Entwicklung in der Zukunft unterbinden könne, andererseits solle Deutschland Geldzahlungen in einem Umfang erbringen, der für Keynes ein Ausdruck von reinem Wunschdenken war. Die wirtschaftspolitischen Illusionen der Akteure führte er auf ihr Desinteresse an einer funktionsfähigen internationalen Wirtschafts- und Finanzordnung zurück. «Der Rat der Vier schenkte diesen Fragen keine Aufmerksamkeit, da er mit anderem beschäftigt war – Clemenceau, das Wirtschaftsleben seiner Feinde zu vernichten, Lloyd George, ein Geschäft zu machen und etwas nach Hause zu bringen, was wenigstens eine Woche lang sich sehen lassen konnte, der Präsident, nur das Gerechte und Rechte zu tun … Wiedergutmachung war ihr Hauptinteresse auf wirtschaftlichem Gebiet, und sie behandelten sie als eine Frage der

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