Geschichte des Westens
Theologie, der Politik, der Wahltaktik, kurz, von jedem anderen Gesichtspunkt als dem der wirtschaftlichen Zukunft der Staaten, deren Schicksal in ihren Händen lag.»
Keynes geißelte die enormen Fehlbeträge im französischen Staatshaushalt als Folge der Weigerung, die Steuern zu erhöhen, wie als Ursache der fortschreitenden Entwertung des Franc und stellte dem die vergleichsweise solide britische Kriegsfinanzierung Großbritanniens gegenüber. Die Auswirkungen der verfehlten Reparationspolitik der Verbündeten trafen nicht nur die Besiegten, sondern früher oder später auch die Sieger: «Vor uns steht ein leistungsunfähiges, arbeitsloses, desorganisiertes Europa, zerrissen vom Haß der Völker und innerem Aufruhr, kämpfend, hungernd, plündernd und schwindelnd – wo soll man weniger düstere Farben hernehmen?»
Seine Kritik ergänzte Keynes durch Vorschläge, die darauf abzielten, eine Wende zum Besseren zu bewirken. Er forderte eine Pauschalsumme von 40 Milliarden Goldmark als realistische deutsche Reparationsleistung. Er drängte auf eine internationale Anleihe, verbunden mit einer internationalen Währungsreform, und ein Zusammenwirken der Verbündeten und Deutschlands beim wirtschaftlichen Wiederaufbau Rußlands. Nicht minder revolutionär wirkte der Appell, die interalliierten Kriegsschulden vollständig zu streichen. Opfer hätten dabei die Vereinigten Staaten und Großbritannien zu bringen: die USA als reine Gläubigernation, deren finanzielle Leistungen den Sieg der Westmächte überhaupt erst ermöglicht hatten, Großbritannien als ein Staat, der mehr Kredite an seine europäischen Verbündeten vergeben als Kredite von Amerika erhalten hatte.
Ein Verzicht Großbritanniens auf deutsche Reparationen zugunsten der neuen Staaten Ostmittel- und Südosteuropas war aus Keynes’ Sicht eine Vorbedingung einer solchen zukunftsweisenden Lösung des Problems der interalliierten Kriegsschulden – eines Problems, das auf Italien nicht minder als auf Frankreich lastete. Die Wirtschaftskraft der USA hielt Keynes für so stark, daß sie sich einen Verzicht auf die Rückzahlung der interalliierten Schulden leisten konnten. Ob Washington sich rasch zu dieser Einsicht durchringen würde, war allerdings höchst zweifelhaft. Keynes konnte nur hoffen, daß die Zeit für die Verbreitung seiner Erkenntnis arbeiten würde: «Soll Europa seine Not überleben, so wird es so viel Großherzigkeit von Amerika bedürfen, wie es sie selbst üben muß.»
Die schärfste Kritik am Friedensvertrag mit Deutschland kam aus Moskau. Das Exekutivkomitee der vier Monate zuvor gegründeten Kommunistischen Internationale verglich im Juli 1919 in einem Aufruf an die Werktätigen der ganzen Welt Versailles mit Brest-Litowsk. Der Friedensvertrag falle in seiner ganzen Wucht in erster Linie auf die Arbeiterklasse Deutschlands. «Wenn der Versailler Friede sich als einigermaßen dauernd erweisen würde, so bedeutet das, daß die Arbeiterklasse Deutschlands unter einem Doppeljoch zu stöhnen hätte: unter dem der eigenen Bourgeoisie und dem der ausländischen Sklavenhalter.» Die derzeitige deutsche Regierung protestiere nur mit Worten gegen den Frieden, tatsächlich helfe sie den Imperialisten der Entente, ihren teuflischen Plan in bezug auf die deutsche Arbeiterklasse auszuführen. «In Deutschland hat der Henker Clemenceau keine treuerenDiener als Scheidemann und Ebert … Die proletarische Weltrevolution – das ist die einzige Rettung der unterdrückten Klassen der ganzen Welt … Solange der Kapitalismus lebt, kann es keinen dauernden Frieden geben. Der dauernde Friede wird auf den Trümmern der bürgerlichen Ordnung aufgebaut. Es lebe der Aufstand der Arbeiter gegen ihre Unterdrücker! Nieder mit dem Versailler Frieden! Nieder mit Brest! Nieder mit der Regierung der Sozialverräter! Es lebe die Rätemacht der ganzen Welt!»[ 6 ]
Die Friedensverträge, die dem Pioniervertrag mit Deutschland folgten, trugen Keynes’ Mahnung keine Rechnung. Der zweite der Pariser Vorortverträge war der am 10. September 1919 in St. Germain unterzeichnete Friedensvertrag mit Österreich. Das Anschlußverbot in Artikel 80 des Vertrags von Versailles ergänzte Artikel 88 des Vertrags von St. Germain. Der Staatsname «Deutschösterreich» mußte in «Republik Österreich» abgeändert werden. Dem Prinzip der nationalen Selbstbestimmung widersprach auch die Grenzziehung am Brenner, die das Land Tirol teilte und das deutschsprachige Südtirol Italien
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