Geschichten aus der Müllerstraße
bei uns im Wedding. Da werden Kinder noch aus Langeweile produziert und nicht wie in Charlottenburg, damit man etwas hat, das man auf den Rücksitz seines BMWs setzen kann. In Steglitz macht man Kinder, weil die Nachbarn auch welche haben, in Mitte, damit man in der Agentur was rumreichen kann, und im Prenzlauer Berg, weil es bei
H&M
einfach keine zu kaufen gibt. Langeweile allerdings scheint von all diesen Beweggründen der stärkste Antrieb zu sein. Das lässt zumindest die Kinderdichte in meinem Hinterhof vermuten.
Da gibt es zum Beispiel im Seitenflügel diese anatolische Familie. Die sitzen nach Einbruch der Dunkelheit immer so gemütlich beieinander, dass man wirklich glauben könnte, Gott hätte dieser Familie alles gegeben, was für ein gutes und glückliches Leben notwendig ist, also abgesehen von Vokalen im Nachnamen oder einer dauerhaften Aufenthaltsgenehmigung. Auch in meinem erweiterten Familienkreis ist beides Mangelware. Kinder aber haben die, Unmengen davon. Die kriegen so häufig ein neues Baby wie ich Besuch vom Gasableser. Das muss doch etwas mit Langeweile zu tun haben.
Bei genauerer Beobachtung könnte man sogar auf den Gedanken kommen, dass Langeweile eine dominant vererbte Eigenschaft ist. Denn wenn ich am frühen Nachmittag aufwache und meinen ersten Blick in den Innenhof tue, erschrecke ich gelegentlich und denke, es hätte über Nacht ein spontanes Massensterben eingesetzt. Dabei liegen die Kinder nur in der Gegend herum und langweilen sich fürchterlich. Das ist aber auch wirklich nachvollziehbar, wenn man in einer Welt lebt, die zwischen Vorderhaus, Seitenflügel und Gartenhaus Platz findet. Da fängt ja auch alles an. Wenn die Kleinen noch Käseschmiere hinter den Ohren und Fruchtwasser zwischen den Zehen haben, steht halb Kreuzberg bei uns im Hinterhof und will einen Blick auf das frisch gebackene Neugeborene werfen. Aber sobald die Kleinen alt genug sind, um eigenständig sitzen zu können, überlässt man sie sich selbst, hockt sie auf eine der Betonplatten im Hinterhof und schaut vielleicht in ein paar Tagen mal nach, was aus ihnen geworden ist.
Das ist gar nicht so ungewöhnlich. Als meine Eltern nach Deutschland kamen und noch im Lager wohnen mussten, haben die polnischen Familien auch alle ihre Kinder einfach unter einem Baum zwischen den Häusern platziert und ab und zu aus den einfach verglasten Plattenbaufenstern hinuntergeschielt, ob es wieder eins weniger geworden ist. Polnischen Sozialdarwinismus nannte man das damals: Survival of the Fittest. Die meisten von uns haben nur deswegen überlebt, weil sie gescheit und unmoralisch genug waren, sich von den Kindern zu ernähren, die es leider nicht geschafft hatten. Es mag an der Religion liegen, aber die Polen hatten schon immer ein sehr ungezwungenes Verhältnis zu Mensch gewordenen Fleisch- und Blutspeisen.
Solch einen katholischen Kannibalismus gibt es bei uns im Hinterhof natürlich nicht. Zu allererst einmal sind die meisten Kinder Moslems. Zum zweiten sind die kleinen einfach viel zu gelangweilt und entkräftet, um übereinander herzufallen. Wenn aber jemand durch das Tor im Vorderhaus tritt, geht eine sonderbare Unruhe durch die Kinder: Ein Murmeln, fast wie das leise Knurren eines kollektiven Magen-Darm-Trakts. Dann ploppt ein einzelnes Individuum wie ein Späher aus dem gefühlten Dutzend heraus, kommt mit ausgestreckter Hand auf einen zu und fragt in einem lauten, freundlichen Ton: »Hallo, mein Freund! Wie geht es dir?«
Als mir das zum ersten Mal passiert ist, wollte ich instinktiv einen Döner ohne Zwiebeln bestellen. Mittlerweile kenne ich die Prozedur:
»Hallo, mein Freund! Wie geht es dir?«
»Gut. Und selbst?«
»Ey, warst du einkaufen?«
»Ja.«
»Was hast du gekauft?«
»Papaya.«
»Ey, gib uns Papaya!«
»Nö.«
»Was hast du noch gekauft?«
»Thunfisch in eigenem Saft.«
»Ey, gib uns Thunfisch in eigenem Saft!«
»Nö.«
»Was hast du noch gekauft?«
»Acetylsalicylsäure.«
»Ey, gib uns Azezylsäure.«
»Wozu? Hast du Kopfschmerzen.«
»Nein, Alter.«
»Dann nicht.«
Dieses hungergelenkte Verhalten ist geprägt von einer ungeheuren Ausdauer. Ich wohne seit drei Jahren dort und sie fragen mich immer noch, jeden Tag. Mittlerweile habe ich mir angewöhnt nur noch kopfschüttelnd an ihnen vorbeizugehen und mir Sachen anzuhören wie »Ey, Alter, bist du unfreundlich!«.
Wirklich hungrig sind die Kinder in den meisten Fällen natürlich nicht. Aber während, wie bereits erwähnt,
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