Geschichten aus der Müllerstraße
»Der Rücken schmerzt, die Füße stinken, drum lass uns noch ein Bierchen trinken.«
Am Stand direkt daneben ist eine ganze Galerie mit Bollywoodfilmen ausgebreitet und sorgt für lebhaften Umsatz beim indisch-pakistanischen Publikum. Aber die Separierung dauert nur für den Moment des kurzen Inspizierens der Angebote dieser Themenstände, danach gliedern sich alle wieder umgehend in den Weddinger Menschenstrom ein, der sich in langsamem Trott über die Müllerstraße schiebt.
An den Fressständen ein ähnliches Bild: Crêpes, Zuckerwatte, merkwürdig zähkörnige, von Maschinen permanent durchgewalkte Getränke in Pupillenkrätze verursachenden Neonfarben für alle, Schweinekamm für die Deutschen, irgendwelche Körner und Sämereien für das orientalische Publikum und die Sittiche der Weddinger Witwen, nur die Schwarzafrikaner haben klugerweise selbst geschmierte Stullen dabei. Dazwischen jede Menge Vergnügungsstände: Kinderkarussels, deren fröhlich quiekende vielfarbige Besatzungen jedem dieser »die multikulturelle Gesellschaft ist gescheitert«-Idioten nächtelange Albträume bescheren müssen; in ohrenbetäubender Lautstärke Jean-Michel Jarre und Xavier Naidoo trötende Glaskästen, aus denen man mit einem ferngesteuerten Greifer versuchen kann, hässliche Stofftiere zu bergen; eine kleine Manege, auf der
pferdegebissige
Mädchen mit strahlenden Gesichtern und feuchten Augen von stoisch trottenden Ponys um das Rund getragen werden, angeführt von einer vielleicht siebzehnjährigen Punkerin, angepeitscht in der Mitte von einem Endfünfziger-Urberliner mit entsprechenden landestypischen Lautäußerungen wie: »Lieber Kunde, letzte Runde!«
Besonders fasziniert mich eine sehr waghalsig aussehende Konstruktion mit Trampolinboden und darüber gespannter Stahlspinne, in der Kinder an Gummitauen festgebunden nach oben geschossen werden, was entweder den Kindern oder den älteren Geschwistern, die am Rand stehen und zugucken, viel Spaß macht. Daneben ein großer Drahtverhau, an dessen einem Ende ein Fußballtor mit einem türkischen Fußballtorwart steht, und ähnlich wie beim Dosenwerfen oder Luftgewehrschießen darf man mit Fußbällen auf das Tor ballern, und wenn man trifft, gibt es einen Preis. Da der Torwart aber sehr geübt ist, dürfte das Auszahlungsrisiko gering sein.
Wir beobachten das Treiben eine Weile – hin und wieder lässt er ganz offensichtlich absichtlich den Ball eines kleinen Jungen durch, der mit in höchster Anspannung verzerrtem Gesicht und fieberhaftem Gesichtsausdruck wieder und wieder antritt. Dem Jungen hat er damit ohne Frage den Tag, wenn nicht gar die Woche vergoldet, freudestrahlend und glückstaumelig presst er die Deutschlandfahne aus Stoff an sich, die es als Preis gibt. Dann kommt eine Truppe leicht pöbeliger und offensichtlich siegesgewisser deutsch-subproletarischer Mittzwanziger, die mit maximaler Kraft drauf losdreschen. Aber überlegen grinsend und ohne die geringste Mühe hält der Torwart die Bälle mit spielerischer Leichtigkeit einen nach dem anderen, und nachdem auch der letzte Schuss versemmelt ist, überreicht der Mann an der Kasse, ein älterer Türke mit schlohweißen Haaren, sehr höflich und mit kaum wahrnehmbar freundlich-spöttischem Lächeln jedem der Postadoleszenten einen Aufkleber mit einem schwarzrot-goldenen Herzchen drauf.
Und dann wird man flugs wieder in die Weddinger Wirklichkeit zurückgeholt. Ausgerechnet an der Losbude. »Helfen Sie Ihrem Glück auf die Sprünge«, verspricht das Schild, und der zugehörige Losverkäufer bringt es verkürzt wie präzise per Lautsprecher unter das Volk: »Hier! Kommen Sie her! Jede Niete gewinnt! Gewinnen auch Sie!« Die Leute schauen interessiert auf. Niemand fühlt sich beleidigt.
Auch Musik gibt es auf dem Müllerstraßenfest und zwar an drei maximal entfernt voneinander liegenden Ecken je eine Indianer-Combo. Alle drei sehen irgendwie gleich aus und führen in vollem Federschmuck schamanische Blockflötenmusik auf. Sie arbeiten bemerkenswert professionell, die Show ist detailliert einstudiert, und eine leicht verwirrt wirkende, blonde junge Frau, die begeistert mitwippt, sucht zu jedem Stück aus einem großen Stapel die passende CD heraus, hüpft tanzend zwischen den am Rande stehenden Zuschauern umher und preist den Tonträger auf diese Weise an. Merkwürdigerweise ist es bei allen drei Indianercombos eine irgendwie gleich aussehende blonde CD-Frau; noch merkwürdiger ist, dass alle drei Combos
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