Geschichten aus der Müllerstraße
komplett aus südamerikanischen Indígenas bestehen, und jetzt fällt es mir schlagartig ein: Natürlich, das sind die ganzen Urubamba-PeruPanflöten-Truppen, die früher in jeder Fußgängerzone und vor jedem
Karstadt
standen, die offenkundig in der Zwischenzeit auf nordamerikanische Totempfahl-Tänze umgeschult worden sind.
Räumlich wie akustisch getrennt sind die Friedenspfeifen nur durch die große Livebühne im Zentrum des Geschehens, direkt vor dem Rathaus Wedding. Auf dem Platz sind Biertische und -bänke aufgebaut, reichlich besetzt mit erschöpften Müllerstraßenfestflanierern, die hier erst einmal ihren Morgenfrühschoppen im gleißenden Sonnenschein einnehmen. Wir finden noch ein freies Plätzchen an einem Tisch, auf den gelehnt sonst nur noch ein Besoffener ein Nickerchen macht.
Fasziniert lauscht Wilko den Darbietungen auf der Bühne. Dort spielt das Duo des musikalischen Grauens: eine Mittvierzigerfrau in weißem Rüschenkleid und schwarzem Faltenrock singt, ein etwas älterer Gitarrist steht daneben und zupft, ansonsten kommt Synthesizer-Musik vom Band. Niemand interessiert sich für die Mischung aus Evergreens, Traditionals und ganz viel deutschen Schlagern, alle sitzen apathisch und teilnahmslos an ihren Tischen und blinzeln in der Sonne auf ihre Bierhumpen. Die beiden Musiker ziehen, sichtlich gequält, ihr Programm durch, und ich lasse mich überwältigen von der Aura der abgrundtiefen Traurigkeit, die von dieser Bühne ausgeht. Sie singen und spielen da, weil der Veranstalter sich gesagt hat, so ein richtiges Straßenfest, das braucht auch eine richtige Showbühne mit richtiger Live-Musik. Die will zwar niemand hören, erst recht nicht im Wedding Sonntagmittags um zwölf, aber sonst wäre es ja kein richtiges Straßenfest. Und so steht also die Sängerin auf der Bühne, sehr unmotiviert tänzelnde Bewegungen antäuschend zu laut wummernder Stimmungsmusik vom Band, dabei immer wieder verstohlen abwechselnd auf ihr Textblatt und die Uhr blickend, während der Gitarrist nur mühsam verhindern kann, im Stehen einzuschlafen. Vielleicht war seine Samstagnacht sehr lang, vielleicht hat er irgendwo
richtig
Musik gemacht, aber er braucht halt die Kohle, er hatte mal einen Traum, er wollte von der Musik leben, und nun lebt er von der Musik, da spielen sie jetzt eben auf dem Müllerstraßenfest. Dabei werden sie komplett ignoriert, und nicht einmal am Ende eines Liedes schaut jemand im Publikum kurz auf, obwohl die Rüschenfrau nach jedem Song »Danke« sagt. Danke – wofür? Dafür, dass er nicht von der Bühne geprügelt wird? Fürs gnädige Ignorieren der grauenhaften Darbietung? Danke für jeden neuen Morgen?
Ein geistig Behinderter tritt plötzlich vor die Bühne, tanzt fröhlich mit und klatscht enthusiastisch nach jedem Lied, was Wilko wiederum motiviert, mit begeistertem Händeklatschen einzufallen. Ich überlege kurz, ob das die Musiker freuen wird oder eher nicht, aber ihr Gesichtsausdruck ist eindeutig und wirkt alles andere als freundlich. Idioten, denke ich, aber sie erleiden ja eh schon ihre gerechte Strafe, was will man da noch mehr. Fast genüsslich betrachte ich die Szenerie: rechts und links ein bunt gemischter Menschenstrom, der sich vorbeischiebt und keinerlei Notiz nimmt von dem Geschehen auf dem großen Platz in der Mitte. Dortselbst etwa hundert schweigsame Weddinger, die meisten mit dickem Kopf, einige vielleicht auch noch von der Nacht übrig geblieben, auf jeden Fall aber von ihr gezeichnet, die vor ihren Bierkrügen sitzen und sich freuen, dass die Musik so laut ist, dass man gar nicht reden könnte, selbst wenn man wollte. Niemand reagiert auf irgendwas. Nur ein Behinderter und ein Baby klatschen fröhlich und hüpfen und zucken ekstatisch.
»Du hast mich 1000 Mal belogen / Du hast mich 1000 Mal verletzt«, trällert das Rüschenhemd nun, vielleicht ein Versuch der Anbiederung an das Publikum, und das lässt unseren Banknachbarn kurz aus seinem Schlaf aufschrecken und den Kopf von der Tischplatte heben, »Du hast mich 1000 Mal belogen / Du hast mich 1000 Mal verletzt / Ich bin mit Dir so hoch geflogen / doch der Himmel war besetzt.«
Da reckt unser Tischschläfer kurz die Faust gegen den Himmel, gibt einen undefinierbaren, grunzenden Laut von sich, dann sackt er wieder in sich zusammen. Wie eine menschliche Musicbox spult das Duo weiter sein Programm ab, jetzt wird es auch dem Behinderten zu doof, vermutlich enttäuscht von der offensichtlichen Ablehnung, die ihm von der
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