Geschichten aus der Müllerstraße
Bühne entgegenschlägt, ruft er völlig zu Recht im Weggehen laut: »Aufhören! Aufhören!«
Aber auch das wird leider von niemandem zur Kenntnis genommen, und als dann endlich die volle Stunde naht und die vertraglich fixierte Zeit abgelaufen ist, entblödet die Rüschenfrau sich tatsächlich nicht, zum Abschluss zu sagen: »Vielen Dank, Sie waren ein tolles Publikum, uns hat es einen Riesenspaß gemacht! Weiterhin beste Unterhaltung hier auf Ihrem Müllerstraßenfest!« Vielleicht steht der Satz aber auch im Vertrag.
Unser Bedarf an Milieustudie ist zwischenzeitlich jedenfalls gedeckt, wir machen uns auf den Rückweg, nicht ohne zur Wahrung unserer kulturellen Identität noch einen Schweinekamm mit Senf im Brot zu kaufen. Mühsam kämpfen wir uns durch die Menschentraube, die sich um die Indianerimitat-Indios gebildet hat, dann haben wir die Seestraße erreicht und gehen zurück nach Hause. Für heute soll es mal reichen. Aber im nächsten Jahr, da ist wieder Müllerstraßenfest. Und alle werden sie wieder da sein. Wir auch.
Müller-/Ecke Seestraße
Frank Sorge
Zweckinteresse
Erstaunlich eigentlich, dass ich die Straßenkreuzung vor der Haustür noch interessant finde, auch nach mehrjährigem Betreten. Wäre die Kreuzung eine Homepage, hätte ich nicht mal ein Lesezeichen gesetzt oder wäre nach einigen Besuchen weggeblieben, weil es so selten etwas Neues gibt. Außerdem sind ja alle Standardelemente, Straßen und Häuser, Geschäfte, Lampen, im Wesentlichen die gleichen wie an der nächsten Kreuzung, der übernächsten, der über-über- bis über-über-über-usw.-nächsten. Just another Wedding-Street – an den Passanten kann es auch nicht wirklich liegen, von denen gibt es zwar immer neue und immer andere, aber man vergisst sie ja doch sofort. Ich habe es soeben bei einem Spaziergang zur Zuckerbäckerin ausprobiert, habe mir alle Menschen im Vorbeigehen angeguckt, wie immer, und alle wieder vergessen. Bis auf die schöne Zuckerbäckerin natürlich. Und die Tabakshopfamilie, die Dönerbereiter und die junge Bettlerin. Und die und der und die und der und die.
Bei
Kaiser’s
treffe ich ehemalige Nachbarn, die der lauten Hauptstraße den Rücken gekehrt und ein paar Straßen weiter ihre Oase der Ruhe gefunden haben. Lustig plaudernd stehen wir vor der Eingangstür und werden sofort von einem grimmigen Passanten beschimpft: »Ey, jetzt stehen die Idioten hier mitten auf dem Weg rum.« Ein etwas nebulöser Satz, aber es ist vermutlich egal, was die Idioten machen, wenn man sie trifft.
Vielleicht ist es nur Zweckinteresse, wenn ich schon mal hier bin, kann ich mich ja auch mit dem Ort beschäftigen. Aber das wäre kein schönes Motiv und es funktioniert schon an der nächsten Kreuzung nicht mehr, an der ich oft nur noch teilnahmslos vorbeilaufe. Bliebe noch die Möglichkeit, dass die heimatliche Kreuzung tatsächlich interessanter ist als andere. Einen Hinweis darauf habe ich letzten Samstag bekommen, als es plötzlich sehr spät wurde im Stammkültürverein, und sehr früh draußen. Zur sechsten Sonntagsstunde sah ich die heimatlichen Fenster und gegenüber im Imbiss die Frauen der Dönerista beim morgendlichen Putzeinsatz. Sie hatten die Musikanlage aufgedreht und tanzten in Schürzen und mit Wischmopp ausgelassen durch den Laden. Gebannt blieb ich stehen und ließ mir das Herz aufreißen.
Das war so schön, da war ich plötzlich nüchtern. Außerdem zehn Jahre jünger, zwanzig Kilo leichter, frisch gebadet, frisch verliebt, frisch eingekleidet, ausgeschlafen, zehn Zentimeter größer, muskulös, porentief rein, offen und völlig vorurteilsfrei, mit vollem Akku bis zum Anschlag. Sämtliche Winterwolken, die sich infolge des Lebens um die kleine empfindliche Seele auftürmen können, brachen auf und der innere weiße Molch fand sich auf einer karibischen Glücksinsel wieder. Ich hätte alle Nachbarn aus den Betten klingeln sollen, damit sie es sehen können.
Ich konnte mich gerade noch zurückhalten, aber es war sehr knapp.
Paul Bokowski
Die Kinder zum Hof
Das Leben der Kinder in meinem Hinterhof wird überschattet von einem beherrschenden und allgegenwärtigen Problem: Notorische Langeweile. Wenn ich aus meinem Wohnzimmerfenster hinunterschaue auf die winzigen wuselnden Köpfchen und nach wenigen Sekunden jeden Zählversuch enttäuscht aufgeben muss, scheint es mir fast so, als sei eben jene notorische Langeweile auch der einzige Grund, warum diese Horden an Kindern überhaupt gemacht wurden. So ist das
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