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Geschichten aus der Müllerstraße

Geschichten aus der Müllerstraße

Titel: Geschichten aus der Müllerstraße Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: be.bra Verlag , Hinark Husen , Robert Rescue , Frank Sorge , Volker Surmann , Heiko Werning
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auserkoren. Viele Programmalternativen gab es auch nicht, da ich neben ihnen der einzige Mensch im U-Bahnhof Seestraße war.
    »Hast U-Bahn verpasst, Alta? He he. Scheise was?! Musst warten, Hurensohn!«
    So ging es noch ein paar Sätze weiter. Was dann geschah, hat mir einmal mehr gezeigt, wie unvertraut ich nach all den Jahren Brauseboys mit den örtlichen Gepflogenheiten dieses Berliner Stadtteils immer noch bin, denn irgendetwas ritt mich, ein beherztes »Och Jungs, könnt ihr einfach mal die Klappe halten?« zum anderen Bahnsteig hinüberzurufen.
    Das war gewiss nicht klug, aber sicher nicht ungerechtfertigt. Doch drüben, jenseits von Abstellgleis und Gleis der Gegenrichtung, musste sich der semantische Gehalt meiner Bemerkung gewandelt haben zu etwas wie: »Ey, du elende Missgeburt, ich ficke deine Mutter, deine Schwester, alle deine Brüder und dich dann erst recht und pinkle danach auf den Schatten deines Gottes!«
    Pummelchens Stimme wurde jedenfalls deutlich aggressiver: »Ey«, wills’ mich beleidigen, du Hurensohn!? – Hurensohn, wills’ misch anmachen, oder was?«
    Er war definitiv zu weit weg, um meine verdrehten Augen zu sehen. Sicherheitshalber schwieg ich. Nichts lag mir ferner, als dieses Milchbubi-Großmaul anzumachen.
    »Ey, Hurensohn! Warum sagste nix? Bist nisch von hier, was? Wir sind von hier! Bist sicherlisch aus’m Osten. Hurensohn, bist von Friedrischstrass, was?! Von Friedrischstrass.«
    Ich schwieg lieber auch, als danach ein Kübel übelriechender Beschimpfungen über mir ausgekippt wurde. Ich hielt in der weiterhin menschenleeren U-Bahnstation nach dem Hinterausgang Ausschau und schlenderte, bemüht, dabei größtmögliche Gelassenheit auszustrahlen, den Bahnsteig hinunter.
    »Hurensohn! Bleib steh’n, oder wir komm rüber, Hurensohn!«
    Und das taten sie tatsächlich. Der Wortführer sprang ins Gleisbett. Behände überwand Pummelchen alle stromführenden Schienen, leider, und stand plötzlich auf meinem Bahnsteig, gute zwanzig Meter hinter mir. Die beiden anderen kletterten auch gerade ins Gleisbett und folgten ihrem Anführer. Damit hatte ich nicht gerechnet.
    »Hurensohn, bleib steh’n!«
    Ich ging weiter auf den Hinterausgang der Station zu. Noch immer war ich mit der Gang allein im U-Bahnhof. Ach, sagen wir es, wie’s war: Ich bekam es langsam mit der Angst zu tun. Vielleicht wurden meine Schritte deshalb ein wenig schneller. Dummerweise registrierte Pummelchen das und spurtete mit einem Mal auf mich los und schrie: »Hurensohn, bleib steh’n!«
    Und bevor ich auch nur darüber nachdenken konnte, was jetzt die angemessene Reaktion wäre, hatte meine Angst meine Füße schon auf die Treppe nach oben gejagt, hinaus auf die Seestraße. Ich hörte höhnisches Gelächter aus der U-Bahnstation hallen, doch die Jungs folgten mir nicht.
    Draußen verschnaufte ich. Super. Ich war gerade vor einem vierzehnjährigen Halbstarken davongelaufen. Einem etwas pummeligen Gangster-Imitat mit vermutlich mühsam antrainiertem Soziolekt. Der wollte mir doch nur einen Schrecken einjagen, sonst nichts! Andererseits: Hier im Norden von Berlin reichte gelegentlich auch schon ein Schneeballwurf, um totgeprügelt zu werden. Ich sah schon die Schlagzeilen vor mir: »Vorlesekünstler Volker S. starb, weil er die U-Bahn verpasste. Sein Mörder Sören-Alexander von T. (14) über sein Motiv: ›Dieser Hurensohn machte so ein dummes Gesicht, sah voll aus nach Friedrischstrass.bist voll das Opra!‹«
    Es war im Grunde ein klassisches Dilemma gewesen, in so einer Situation hat man ja eigentlich keine Chance: Wegzulaufen war ein Fehler. Wäre ich aber stehen geblieben, wäre das mein Fehler gewesen, schließlich hätte ich damit überdeutlich signalisiert, dass ich die Angriffsformation von Aggropummelchen nicht ernst genommen hätte. Dann hätten sie direkt vor mir gestanden. Sie zu dritt, ich allein. Egal, was ich dann gesagt oder gerufen hätte, auch das wäre automatisch falsch gewesen. Wer zum Hurensohn gestempelt wird, ist Freiwild und kann nichts mehr richtig machen.
    Ein paar Minuten stand ich oben auf der Seestraße, überlegte, ein Taxi anzuhalten oder zu Fuß zur Ringbahn zu laufen. Doch dann ging ich noch einmal die Treppe runter und linste um die Ecke auf meinen Bahnsteig.
    »Hurensohn, wir sehen disch!«, rief es von weit drüben. Die drei waren wieder auf der anderen Seite. Ich konnte also gefahrlos schauen, wann meine U-Bahn kam: Vier Minuten. Und da hinten saß noch mindestens ein anderer

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