Geschichten aus der Murkelei
herbei, und er fragte ärgerlich: »Ratte, was tust du da? Warum beißt du meine Kinder?«
Fauchte die Ratte wütend: »Sie sollen nicht singen: nackter Rattenschwanz!«
»Aber dein Schwanz ist doch nackt, Ratte«, sprach der Hausherr. »Sie können doch nicht singen: haariger Rattenschwanz!«
»Aber du hast keinen Rattenschwanz am Rock!« schrie die Ratte voll Zorn. »Das ist ein Schweineschwanz.«
Der Hausherr faßte lachend nach hinten, fischte sich den Schweineschwanz, machte ihn ab, sah ihn an und sprach: »Freilich
ist das ein Schweineschwanz. Aber sie sind alle beide nackt und häßlich: der Schweineschwanz wie der Rattenschwanz!«
»Was?!« kreischte die Ratte, »mein Schwanz ist häßlich – ?! Aber du hast doch am ersten Abend gesagt, Hausherr, die Hausfrau
hätte das nicht so gemeint?!«
»Die Wahrheit zu sagen, Ratte«, sagte der Hausherr, der merkte, wie er die Ratte noch am siebenten Probetage loswerden konnte,
»habe ich das nur aus Höflichkeit gesagt. Je länger ich deinen Schwanz anschaue, um so abscheulicher finde ich ihn. Ja, ich
muß gradeheraus sagen: Dein Schwanz sieht aus wie ein nackter, nasser, blinder Regenwurm!«
»Regenwurm!« lachten die Kinder. »Rattenschwanz – Regenwurm! Nackter, blinder Regenwurm!«
Da konnte sich die Ratte vor Wut nicht mehr halten. »Wenn ihr meinen herrlichen Schwanz nicht schön findet«, rief sie, »so
will ich auch eure Freundin nicht sein! Nein, eure ewige Feindin will ich sein! Mit Nagen, Naschen, Verderben, |143| Beschmutzen will ich den Menschen immerzu Schaden tun, soviel ich nur kann!«
Mit diesen Worten fuhr sie an dem Hausherrn hoch und biß ihn kräftig in die Nase, daß er schrie. Dann aber sprang sie mit
einem Satz in den offenen Schweinestall und verkroch sich gleich in ihren alten Gängen, denn der Hausherr und die Kinder stürmten
ihr nach, um sie zu erschlagen. Gleich wurden wieder Fallen und Gift aufgestellt, die Kinder aber sangen dabei: »Rattenschwanz
– pfui, Rattenschwanz! Oller, nackter Rattenschwanz! Regenwurm – igitt!«
So ist es denn nichts geworden mit der Freundschaft zwischen dem Menschen und der Ratte. Für immer findet der Mensch die Ratte
abscheulich und stellt ihr nach, wo er sie nur sieht; die Ratte aber haßt den Menschen und tut ihm noch mehr Schaden durch
Verderben und boshaftes Verschmutzen als durch ihr Fressen.
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|144| Geschichte von der Murkelei
Es war einmal ein Vater, der wünschte sich viele Kinder, am liebsten ein Dutzend, sechs Jungen und sechs Mädchen. Es geschah
ihm aber nicht nach Wunsch, sondern er hatte nur zwei: einen Jungen, den nannte er den Murkel, und ein Mädchen, das hieß er
die kleine Mücke.
Weil ihm das aber nicht genug war, dachte er sich noch mehr Kinder aus, zu seinen zweien noch zwei, so daß er doch wenigstens
ein drittel Dutzend voll hatte. Von den ausgedachten Kindern nun nannte er das älteste Träumlein. Das war ebenso alt wie der
Murkel und seine besondere Gefährtin; und wenn der Murkel ein Junge war, war Träumlein ein Mädchen; war Murkel blond, war
Träumlein dunkel; war Murkel wild und laut, war Träumlein sanft und leise.
In Wirklichkeit aber gab es Träumlein gar nicht, der Vater hatte sie sich nur ausgedacht. Keiner konnte Träumlein je erblicken,
die Mutter nicht und der Murkel auch nicht. Nur der Vater sagte, er sähe sie immer, wann er nur wolle, und er wußte viel von
ihr zu erzählen.
Und genau wie mit dem Träumlein war’s mit dem Windwalt, den hatte sich der Vater als Spielgesellen für die kleine Mücke erdacht.
Das war ein kleiner Junge, rasch wie der Wind und immer vergnügt. Am liebsten lief er barfuß, und stets vergaß er sein Taschentuch.
Oft sagte der Vater kopfschüttelnd zu der kleinen Mücke, wenn ihr die Nase fortlief: »Genau wie dein Bruder Windwalt! Wo hast
du denn dein Tüchlein! Und natürlich kann dir Windwalt wieder mal nicht aushelfen, denn er hat auch keines!«
Wenn nun der Vater mit den Kindern ausging, und er |145| machte das Hoftor auf, so liefen erst die Hunde durch: Plischi und Peter. Dann kamen die Kinder: Murkel und Mücke. Dann wartete
der Vater ein Weilchen, um auch Träumlein und Windwalt durchzulassen, und nun erst kam er nach und machte das Hoftor wieder
zu. Murkel und Mücke faßten den Vater an, eines rechts, eines links, und neben den beiden gingen wieder Träumlein und Windwalt.
Wurde der Feldweg einmal sehr schmal, so mußten alle ganz eng nebeneinanderrücken,
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