Geschwister - Liebe und Rivalitaet
jeweils anderen Gruppe statt. Wenn es erst einmal zu einer solchen Spaltung gekommen ist, braucht man auf heftige Streitigkeiten bis zu dramatischen Kämpfen nicht lange zu warten, weil im Konfliktfall jede Gruppe das Recht auf ihrer Seite weiß. Vielleicht haben es hierin zwei Geschwister, also die am meisten verbreitete Form der heutigen Geschwisterkonstellation, einfacher, weil sie viel stärker aufeinander angewiesen sind und eine Spaltung beide in die Vereinzelung führen würde.
5. Über die Dankbarkeit
Wenn wir von einer Geschwisterbeziehung ohne Spaltung ausgehen und das Rätsel der Geschwisterliebe in dem einzigartigen Zusammenfluss biologischer, körperlicher, geistiger, seelischer und sozialer Verbindungen vermuten, dann ist man über ein alles übergreifendes und charakteristisches Element der Beziehung nicht mehr erstaunt – die Dankbarkeit.
Das Gefühl der Dankbarkeit füreinander beginnt mit den reiferen Organisationsstufen des Ich und der differenzierten Wahrnehmung von Objektbeziehungen in der späten Kindheit, also ab dem Schuleintritt. Ab jetzt stellen sich für Geschwister meist unbewusst die Fragen: Wie hätten sie ohne den anderen das alles erlernen sollen? Wie wäre es gewesen, wenn sie alleine bei den Eltern oder nur bei der Mutter gelebt hätten? Ihrem gemeinsamen Leben verdanken sie einen wesentlichen Teil der Kraft zu einer größeren Unabhängigkeit. Dankbarkeit erreicht erst im Alter ihre reifste Form. Ihre Anfänge gehen bis zu dem Zeitpunkt zurück, an dem das Kind seinen Egoismus Stück für Stück aufgeben kann und die Interessen anderer akzeptieren lernt. Das Verlassen der familiären Hülle, das Alleinsein-Können in fremder Umwelt, ist die erste Bewährungsprobe für die soziale Reife und erworbene Autonomie, bei der der Schock des Erwachens rückerinnernd das Gefühl der Dankbarkeit bewusst macht.
Dankbarkeit für das geschenkte, beschützte und geförderte Leben. Das Gefühl gehört zu den tief verinnerlichten und elementaren Prinzipien jeder sozialen Gemeinschaft, ob zwischen Eltern und Kindern, zwischen Geschwistern, Freunden, Paaren oder zwischen Mitgliedern einer größeren sozialen Gruppe. Dankbarkeit ist ein unentbehrliches Ferment jeder produktiven sozialen Bindung und ein konstituierendes Element der Liebe.Ohne den Begriff hier in seiner ethischen Bedeutung weiter vertiefen zu wollen, muss er im Zusammenhang der Geschwisterliebe erwähnt werden, weil diese dadurch um eine bisher nicht gesehene Dimension erweitert wird. Es scheint nicht wenige Menschen zu geben, die das Gefühl der Dankbarkeit in sich kaum entwickelt haben, nicht entwickeln konnten, oder die es sogar für sich ablehnen. Besonders in letzterem Fall wird das Gefühl als Ausdruck von Abhängigkeit, Unfreiheit, Gehorsam und Unterwerfung interpretiert – unter die Eltern, eine Autorität, einen Führer oder einen Gott – und deswegen abgelehnt. Es handelt sich bei dieser Argumentation nach meiner Einschätzung nicht um ein philosophisches Problem oder um die psychologische Frage, unter welchen Bedingungen eine übermäßige Dankbarkeit tatsächlich aus einer masochistischen Selbstabwertung erwachsen kann. Es geht vielmehr um die Frage, inwieweit frühkindliche Impulse von Neid, Gier, Wut, Hass, Protest und Widerstand gegen ambivalent besetzte Objekte (Mutter, Vater, Geschwister) überwunden werden konnten oder ob diese destruktiven Gefühle überdauern und damit die Entwicklung von Dankbarkeitsgefühlen verhindern.
In Geschwisterbeziehungen, in denen kein wechselseitiges Gefühl der Dankbarkeit besteht, dürfte auch die Geschwisterliebe kaum jemals einen größeren Platz eingenommen haben. Die Unfähigkeit, Dankbarkeit zu erleben, beruht im Wesentlichen auf einer Fortdauer destruktiver Gefühle und stellt sich damit sozialer Integration und Bindung entgegen. Insofern kann das Vorhandensein von Dankbarkeit beziehungsweise von Undankbarkeit als ein wichtiges Kriterium für eine bestehende Geschwisterliebe beziehungsweise für einen Geschwisterhass betrachtet werden.
In der Geschwisterliebe von Kindern drückt sich deren Dankbarkeit darin aus, dass sie sich jetzt öfter kleine Geschenke machen, sich häufiger gegenseitig helfen, und vor allemin der Freude, wenn sie sich nach längerer Trennung wiedersehen. Manchmal wird diese Freude noch durch eine betonte Gleichgültigkeit oder sogar durch streitsüchtiges Verhalten abgewehrt, was zu unguten Missverständnissen zwischen den Geschwistern und bei den
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