Geschwister - Liebe und Rivalitaet
Durch die Rollenübernahme als Mutter oder Vater kommt die lange Phase der Kindheit und Jugend endgültig zum Abschluss. Dieser Vollzug des Generationenwechsels in der eigenen Person durch die Kinder ist die wohl einschneidendste Lebensentscheidung überhaupt. Welche Bedeutung sie für die Weiterentwicklung der Geschwisterliebe hat, wird erst in der jetzigen Lebensphase voll zum Tragen kommen.
Wie sehen Geschwisterbeziehungen in dieser Phase im Allgemeinen aus? In der Regel sind alle Geschwister jetzt verheiratet oder leben in festen Partnerschaften. Die ersten Kinder sind auf der Welt. Die Erwachsenen haben ihre Berufsausbildung abgeschlossen und teilweise bereits Karriere gemacht. Die Geschwister sind zeitlich und emotional so stark mit der Kindererziehung, ihrer Partnerschaft, dem Ausbau des Hausstandes und der Berufstätigkeit beschäftigt, dass sich ihr Kontakt zwangsläufig immer mehr verdünnt. Das trifft besonders für Geschwister zu, die in größerer örtlicher Entfernung voneinander wohnen. Trotzdem gibt es zu besonderen Anlässen wie Hochzeiten, Geburtstagen, Geburten oder Festtagen, meist unter Einbeziehung der Eltern, Familientreffen, und gelegentlich fahren die Geschwister, hauptsächlich der Kinder wegen, gemeinsam in den Urlaub. Wenn sie Glück haben, verstehen sich die Paare gut, jedes Geschwister kann den Partner des anderen nach einiger Zeit des Kennenlernens auch innerlich als Familienmitgliedannehmen. Sie unterhalten sich über die täglichen Dinge des Lebens, über Berufsprobleme und Kindererziehung. Wenn die Zeit reicht, spielen sie an den Wochenenden gemeinsam Gesellschaftsspiele oder treiben Sport zusammen.
Diese Gewohnheiten, so erzählt, scheinen unter psychologischem Aspekt wenig Bemerkenswertes zu enthalten. Obwohl sie die Norm abbilden dürften. Das erklärt, warum dieser Lebensabschnitt in der Literatur über Geschwisterbeziehungen kaum existiert.
Wir müssen also genauer hinschauen, um zu verstehen, welche lebensgeschichtliche Bedeutung das mittlere Erwachsenenalter für das Kontinuum der Geschwisterliebe hat und welchen wichtigen Beitrag sie gerade in diesem Lebensabschnitt für die Weiterentwicklung der eigenen Person leistet. Dazu ist es notwendig, zunächst etwas ausführlicher auf die Rolle der Kinder einzugehen.
Dabei ist auffallend, dass ihre positive Bedeutung im Rahmen harmonischer Geschwisterbeziehungen in der wissenschaftlichen Literatur kaum gesehen, geschweige denn gründlicher untersucht worden ist. Repräsentativ für die offizielle Auffassung erscheint mir folgende Formulierung in der bekannten, umfangreich recherchierten Darstellung über Geschwister der amerikanischen Autorin Francine Klagsbrun: »Komplex sind auch die Beziehungen zu den Kindern der Geschwister, aber das ist ein Thema für sich und gehört im Grunde nicht mehr in den Rahmen dieses Buches.« 27 Entsprechend dieser Auffassung tauchen in der vorliegenden Geschwisterliteratur Kinder von Geschwistern bis auf vereinzelte Hinweise kaum auf. Vielmehr besteht die Tendenz, selbst die erwachsenen Geschwister als ausschließlich um die Eltern kreisende, ewige Kinder zu sehen. Damit bleibt aber auch die Geschwisterliebe unter Erwachsenen in all ihrer Besonderheit und ihrem Reichtum unbegriffen. Wie die bisherige Beschreibung jedochgezeigt hat, macht die Geschwisterliebe in den verschiedenen Lebensabschnitten immer wieder neue Transformationen durch. So bleibt hier zu fragen, wie sie sich weiterentwickelt, wenn durch eigene Kinder das Familiengefüge vergrößert wird. Bekanntlich bedeutet die Übernahme der Mutter- oder Vaterrolle für jeden Menschen einen entscheidenden Entwicklungsschub, der seine Identität als Erwachsener erweitert. In diesem Prozess wird auch die Geschwisterliebe zu einer höheren Stufe hin organisiert. Warum? Die Frage lässt sich mithilfe der Erkenntnisse der systemischen Familientheorie einleuchtend beantworten. Wie wir sahen, bilden Geschwister ein sogenanntes Subsystem innerhalb des Gesamtsystems Familie.
In der Zeitspanne, in der sie selbst Kinder bekommen, tritt mit diesen eine neue Generation auf, und die Geschwister vollziehen einen Generationswechsel. Damit findet eine grundsätzliche Erweiterung und Umstrukturierung des ursprünglichen Gesamtsystems statt. Dieses umfasst jetzt drei Generationen und entsprechend drei Subsysteme mit Großeltern, Eltern und Kindern. Mit dieser Umwandlung haben sich auch die Funktionen der einzelnen Mitglieder des Ursprungssystems entscheidend
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