Geschwister - Liebe und Rivalitaet
geändert. Die Systemregeln besagen, dass ein System seine innere und äußere Balance nur erhalten kann, wenn es sich plastisch an neue Existenzbedingungen anpasst; diese Forderung richtet sich an alle Teilbereiche des Systems, an die Subsysteme ebenso wie an die einzelnen Mitglieder. Erfolgt diese Anpassung nicht, zerbricht das System. Das bedeutet konkret: Ein Geschwister kann nicht weiter die Kindrolle einnehmen, wenn es Vater- oder Mutterfunktionen übernimmt. Dadurch krempelt es das Gesamtsystem um: Es verweist die Eltern in die Rolle der Großeltern und verwandelt das geschwisterliche Subsystem in ein Elternsubsystem. Dies trifft auch zu, wenn die anderen Geschwister noch keine Kinder haben oder nie bekommen werden. Sollten sich diese nicht an die Veränderung desSubsystems anpassen, sondern krampfhaft an ihrer Kindrolle festhalten, gefährden sie das Gleichgewicht des Gesamtsystems bis hin zum Auseinanderbrechen der Familie.
Diese Regeln erklären das häufige Auftreten von Geschwisterkonflikten und die Destabilisierung von Familien bei der Geburt des ersten oder weiterer Kinder eines Geschwisters. Streit, Neid, Missgunst, Zerwürfnis, Anklammerung und Kontaktabbruch gehören zu der Vielzahl an Symptomen, die das Zerbrechen des Systems ankündigen oder besiegeln.
Umgekehrt bieten Kinder für die noch kinderlosen oder auf Dauer kinderlos bleibenden Geschwister die Chance, die Neudefinition des Subsystems mit zu vollziehen, das bedeutet praktisch, die eigene Elternrolle fantasierend auszuprobieren, die Entscheidung für oder gegen eigene Kinder zu prüfen und zu verarbeiten, um auf diese Weise erwachsen zu werden. Auf jeden Fall steht mit der neuen Generation der Nichten und Neffen die Aufgabe an, sich der Erwachsenengeneration zugehörig zu fühlen und die Kindposition endgültig aufzugeben.
Die psychologische Dimension der Geschwisterliebe liegt hier in dem Verdienst des Geschwisters, durch sein Kind das Kindsein des anderen Geschwisters aufgehoben und zu einem neuen Status als Erwachsener transformiert zu haben. Es ist die vielleicht reifste Form der Identifikation, die der neu zu erreichenden Identität als Erwachsener vorangeht: »So wie du durch dein Kind beweist, dass du jetzt erwachsen bist, will ich auch erwachsen werden.« Es liegt nahe, in diesem Zusammenhang das Prinzip der konstruktiven Konkurrenz wiederzuerkennen, das wir als zentralen und fördernden Bestandteil einer liebevollen Geschwisterbeziehung erkannt haben. In diesem Zusammenhang wäre es fast amüsant, einmal zu überprüfen, wie viele Geschwister die gleiche Anzahl an Kindern ursprünglich geplant oder tatsächlich bekommen haben. Diese Dynamik der konstruktiven Konkurrenz ließ sich gut bei zweibefreundeten Kolleginnen beobachten, die unverkennbar positive Schwesternfunktionen füreinander hatten, zumal eine von ihnen ein Einzelkind war. Sie lernten sich erst während ihrer Berufstätigkeit in einer Klinik kennen. Relativ spät, nach Studium und mehreren Berufsjahren, bekam eine von ihnen ihr erstes Kind. Es war nicht weiter auffallend, dass auch die andere Kollegin bald schwanger war. Etwa zur gleichen Zeit trugen beide ihr zweites Kind aus. Erst als nahezu parallel die dritten Kinder unterwegs waren, löste dies unter Freunden allgemeine Heiterkeit aus, weil jetzt für Außenstehende die möglicherweise unbewusste Konkurrenz nicht mehr zu übersehen war. Schließlich feierten die beiden auf einer gemeinsamen Party die Geburt ihrer vierten Kinder. Danach schien die konstruktive Konkurrenz erschöpft und befriedigt zu sein, und die beiden arbeiteten viele Jahre lang eng zusammen. Und da sie nicht gestorben sind, sind sie auch heute noch gut befreundet.
Wachstum und Reife und die Förderung der Geschwisterliebe durch eigene Kinder. Auf der Basis der frühen Bindungsmuster kommen jetzt nochmals neue Gefühlsqualitäten hinzu, die die Beziehung zu ihrem Höhepunkt hin abrunden. Unter ihnen dominiert das Gefühl einer erwachsenen geschwisterlichen Verantwortung. Tief verinnerlichte Gesetze familiärer Loyalität und Zusammengehörigkeit beziehen auch die Kinder eines Geschwisters mit ein. Das Attribut »Onkel« oder »Tante«, besonders akzentuiert durch die Rollenzuschreibung als »Patenonkel« und »Patentante«, basiert im Wesentlichen auf einer Form der Zuständigkeit und Verpflichtung, die sich als ehernes Prinzip bis in die Frühformen familiärer Ordnung zurückverfolgen lässt. Daran hat auch die Auflockerung und
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