Geschwister - Liebe und Rivalitaet
Jahre ältern Bruder. Vor einer Woche habe sie ihn überraschend besucht, nachdem er telefonisch seit einiger Zeit nicht erreichbar war und E-Mails nicht beantwortet hatte. »Ich prallte fast zurück, als ich seine völlig verwahrloste und verrauchte Bude betrat. Er sah mich, sprang entsetzt aus dem Bett, schrie mich an, was ich hier wolle, und rannte nervös in Unterhosen im Zimmer herum. Hastig zündete er sich eine Zigarette an.«
»Was war passiert?«, wollten die anderen Studenten wissen.
»Ich wusste es nicht. Ich sagte ihm, wenn er Lust habe, würde ich ihn zum Essen einladen, er solle sich anziehen, ich werde draußen warten. Nach einer halben Stunde kam er heraus. Er hielt ein Stück Papier in der Hand, das er mir erst gab, als er über einem Teller Spaghetti saß. Es war ein Gerichtsbescheidüber eine fristgerechte Mahnzahlung von 500 Euro, andernfalls drohe eine Gefängnisstrafe. Mein sensibler Bruder im Gefängnis! Plötzlich verstand ich seine Panik. Die Frist lief in drei Tagen ab, und er war völlig pleite, schämte sich aber, irgend jemanden anzusprechen.«
Wie sich dann weiter herausstellte, war der ständig in Geldnot lebende Bruder mehrfach beim Schwarzfahren mit der U-Bahn erwischt worden. Mit den nicht bezahlten Strafgeldern und den angelaufenen Anwalts- und Gerichtskosten war die Summe in die Höhe geschnellt.
»Und was hast du gemacht?«, fragte eine Kommilitonin.
»Nachdem ich meinen eigenen Schrecken überwunden hatte, kramte ich mein eigenes Geld zusammen und lieh mir bei unseren Eltern unter einem Scheinvorwand Geld aus; sie durften auf keinen Fall davon erfahren, sonst hätten sie meinem Bruder endgültig das Studiengeld gestrichen. Dann habe ich systematisch meinen Freundeskreis angepumpt, bis die 500 Euro zusammen waren.«
»So eine Schwester möchte ich auch mal haben«, sagte ein türkischer Student, der dann seinerseits ein Erlebnis mit seiner 1 7-jährigen Schwester erzählte. Sie war schwanger geworden, wollte das Kind aber wegen eines geplanten Studiums nicht austragen. Sie fürchtete, ihr ältester Bruder könne sie oder ihren Freund wegen der Schwangerschaft und erst recht wegen der geplanten Abtreibung umbringen; auf jeden Fall würden ihre Eltern sie aus der Familie ausstoßen, weil »illegale« Schwangerschaften in der Familie als Verbrechen geahndet wurden. Eine Beratungsstelle hatte der Student nicht aufgesucht, weil er fürchtete, sie könnte die Eltern wegen der Minderjährigkeit der Schwester benachrichtigen und ihre Einwilligung einholen. So lief er sich die Hacken wund, bis er einen türkischen Arzt fand, der die Abtreibung vornahm. »Das Geld dazu habe ich mir übrigens in unserem ganzen Familienclanzusammengestohlen«, schloss er halb schuldbewusst, halb triumphierend seinen Bericht.
Jetzt erzählte eine andere Studentin ihr schlimmstes Erlebnis mit ihrem jüngeren Bruder. Er war in eine andere Stadt gezogen. Dort wollte er das Abitur nachmachen. Sie hatten längere Zeit nichts mehr voneinander gehört. Eines Tages bekam sie von ihm einen Hilferuf. Sie fuhr zu ihm. Als sie seine Wohnung betrat, erschrak sie. Überall standen Flaschen herum. Klaus war betrunken. Er erzählte ihr von dem nicht bestandenen Abitur, von der Freundin, die ihn verlassen hatte, und wie er zum Alkohol gekommen war. Er wusste nicht weiter, das Leben kam ihm sinnlos vor. Er wollte sich umbringen.
»Ich blieb eine Woche bei ihm«, beendete die Studentin ihren Bericht, »wir wanderten in den Bergen, gingen ins Kino, mein Bruder zeigte mir die Stadt. So lange und so vertraut hatten wir seit unserer Kindheit nicht mehr miteinander gesprochen. Mein Bruder ist mir heute noch dankbar und ist überzeugt, dass er ohne meinen damaligen Besuch Selbstmord begangen und ein Jahr später das Abitur nie bestanden hätte. Meine Eltern haben von dieser Krise nie etwas erfahren.«
Die drei literarischen und die drei Alltagsgeschichten zeichnen sich vielleicht nicht zufällig durch ein gemeinsames Kennzeichen aus: den Wegfall oder die Umgehung elterlicher Autorität, Führung und Einflussnahme. Dabei koppelt sich die Geschwistergruppe freiwillig von den Eltern ab oder ist zwangsläufig alleine auf sich gestellt.
8. Geschwisterliebe im mittleren Erwachsenenalter
(30. bis 50. Lebensjahr)
Der Ablösungsprozess von den Eltern am Übergang zum mittleren Erwachsenenalter erfolgt nicht zufällig zu einem Zeitpunkt neuer Rollenfindung. Mit den eigenen Kindern wird die nächste Generation geboren.
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