Geschwister - Liebe und Rivalitaet
auf eine verpasste Beziehung hinweist.
Ein weiteres wichtiges Merkmal der Geschwisterliebe im mittleren Erwachsenenalter ist das, was ich als die »kritische Funktion der Liebe« bezeichnen möchte. Der existenziellste Konflikt jedes Individuums zwischen der Erfüllung seiner Eigenbedürfnisse und der Rücksichtnahme auf die Interessen der Gemeinschaft erfordert von früher Kindheit an Kritik als unverzichtbaren Bestandteil der Sozialisation. Bei der adäquaten Lösung des Konfliktes können Geschwister sich gegenseitig eine wichtige Hilfe sein. Es gibt mehrere Gründe dafür, warum sie ideale Partner für konstruktive Kritik darstellen. Seit früher Kindheit kennen sie sich bis in die entlegensten Winkel ihrer Seele, ihnen entgehen keine Täuschungsmanöver, keine falschen Gesten, wie kein anderer können sie zwischen der Maske und dem wahren Gesicht unterscheiden. Außerdem sind sie, auf das ganze Leben bezogen, die verlässlichsten Zeugen und Chronisten konkreter Geschichte, die jedes Geschwister durchlebt hat. Dazu ergänzt sich gut, dass sie sich schon von frühester Zeit an mit der ganzen Ehrlichkeit, Direktheit und Radikalität, die Kindern noch eigen sind, kritisiert haben. Und wie kein Fremder, auch die Eltern nicht, durften sie sich kritisieren und lernten die Kritik ertragen, weil sie auf mehr Gleichberechtigung beruhte und nicht mit Strafe, Verbot, Verurteilung und Liebesentzug verbunden war. Diese gemeinsamen Erfahrungen zahlen sich jetzt aus. Im mittleren Erwachsenenalter können sich Geschwister noch gegenseitig Wahrheiten sagen, die selbst von Freunden nicht hingenommen oder ohne schwere Kränkung ertragen würden. Die Kritik im konstruktiven Sinne als Hinweis und wohlwollende Korrektur und Beurteilung verstandenund nicht als Anklage und vernichtender Vorwurf kann gerade in der Lebensmitte als Bereicherung erlebt werden, weil eingeschliffene Gewohnheiten bis dahin oft eine spezifische Blindheit erzeugt haben, die zu erstarrten Anschauungen und verzerrten Realitätseinschätzungen führt. So verstandene Kritik kann vor folgenschweren Irrtümern, falschen Selbstbildern und ungerechtem Handeln schützen. In diesem Sinne bekommt die Geschwisterliebe eine kritische Spiegelfunktion; dort, wo man sich sonst abwenden würde, erlaubt sie einem, die Wahrheit anzusehen, ohne sich zu schämen.
Die kritische Funktion basiert letztlich auf dem Vertrauen, dass ihr Motiv durch Freundlichkeit und Nähe gekennzeichnet ist und sich von beabsichtigter Zerstörung frei weiß. Ihre Bedeutung im mittleren Erwachsenenalter wird durch die Tatsache betont, dass in dieser Lebensperiode sich viele Geschwister am weitesten voneinander entfernt haben. Während es im späteren Alter wieder zu einer größeren Annäherung kommt, entwickeln sich die Lebensverläufe jetzt oft diametral entgegengesetzt. Der eine Bruder wird Politiker in einer rechten, der andere in einer linken Partei (die Brüder Vogel); einer wird Politiker, der andere Philosoph (die Brüder von Weizsäcker); ein Bruder wird Geschäftsmann, die Schwester Regisseurin; eine Schwester wird Lehrerin, eine andere Werbegrafikerin. Die entstandenen Kombinationen sind häufig bei näherem Hinsehen nicht zufällig, sondern Ausdruck lebensgeschichtlich entstandener, oft unbewusster Berufswahlen. Entsprechend drücken sie abweichende Lebensvorstellungen, Interessen und Ideologien aus. In diesem Fall dient die kritische Funktion der Geschwisterliebe dazu, im Meinungsstreit, in der Auseinandersetzung über gegensätzliche Lebensinhalte und Lebensziele der Gefahr der Erstarrung jedes Einzelnen im System seiner Weltanschauung vorzubeugen. Geschwister sind hier durch ihre Kritikoffenheit oft unentbehrlicher Anstoß, die eigenenDenk- und Handlungsmuster zu überprüfen, zu erweitern und für neue Möglichkeiten flexibel zu halten. So dient die kritische Funktion der Geschwisterliebe bei größerer Gegensätzlichkeit der Geschwister ihrer wechselseitigen Lebendigkeit, da sich diese nicht zuletzt der angenommenen Kritik verdankt. Erfahrungsgemäß können Geschwisterbeziehungen im mittleren Lebensalter stark verarmen, wenn sie nicht mehr für verändernde Kritik durchlässig bleiben. In diesem Fall dürfte es sehr schwer werden, im späteren Alter wieder zusammenzufinden.
Der hier erläuterte Zusammenhang lässt sich an einem Bruderschicksal dokumentieren, das in die Literaturgeschichte eingegangen ist. Der berühmte »Bruderzwist« zwischen Heinrich und Thomas Mann hat zu ihren
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