Geschwister - Liebe und Rivalitaet
verbleibende Kind klammert, um seine Liebesdefizite auszugleichen. Die Über-Kreuz-Bindung erfüllt die klassischen Voraussetzungen des Ödipus- und Elektrakomplexes. Die Mutter-Sohn- und Vater-Tochter-Liebe zerstört das familiäre Gleichgewicht, weil aus systemischer Sicht eine Regelverletzung stattfindet, wenn das Subsystem der Eltern das der Kinder zu stark diffundiert. Psychologisch zerbricht das Gesamtsystem an dem Ausmaß der entfesselten destruktiven Kräfte, weil, bis auf die Ersatzpaare, jeder vergeblich um die Gunst des anderen rivalisieren muss und sich ausgestoßen fühlt. Dabei ist für die Kinder die übermäßige Bindung an ein Elternteil immer mit einem Verrat an der Geschwisterliebe verbunden. In gescheiterten Ehen tritt der Missbrauch der Scheidungskinder als Partnersubstitut oft unverhüllt zutage. Durch ein solches Schicksal werden die Geschwister auch entscheidend daran gehindert, das Trennungstrauma gemeinsam zu bewältigen.
Im Vergleich zum Partnerersatz handelt es sich bei der Parentifizierung um einen subtilen Mechanismus, bei dem ein Kind die Rolle eines Elternteils einnehmen muss. Dabei kommt es leicht zu einer Rollenumkehr, bei der ein Elternteil die Kindrolle übernimmt und an das Kind die Erwartung richtet, die früher von den eigenen Eltern nicht erfüllt wurde. Auch hier bildet strukturelle Ungeborgenheit oft einen wichtigen Hintergrund, ebenso wie die Nichtanwesenheit eines stützenden Partners. Erfahrungsgemäß können schon Kinder in den unbewussten Fantasien der Eltern zum Elternsubstitut werden; aber konkreten Schutz, Hilfe, Fürsorge, Verständnis, Austausch und Trost können Kinder ihren Eltern erst ab dem Jugendalter geben. Die tragische Hypothek der Parentifizierung besteht in dem erzwungenen Verzicht des betroffenen Kindesauf eine eigene Kindheit und Jugend und in einer dauerhaften Überforderung. Der unbewusste Gewinn liegt jedoch in seiner Unentbehrlichkeit und in seiner herausgehobenen Stellung in der Geschwisterreihe. Diese Machtposition wird es zur Dominanz über die Geschwister verführen und dadurch heftige Rivalitätskämpfe auslösen.
Neben den bisher beschriebenen bewussten wie unbewussten psychologischen Manipulationen der Kinder durch die Eltern und den überwiegend gesellschaftlich bedingten Auswirkungen struktureller Ungeborgenheit gibt es eine dritte wichtige Quelle für destruktive Geschwistergefühle. Sie liegt in gravierenden Wesensunterschieden der Geschwister selbst.
Je ausgeprägter sie sind und je mehr ein Kind dadurch benachteiligt wird, umso schärfer wird der Rivalitätskampf. Die Unterschiede beziehen sich auf körperliche Merkmale wie Aussehen, Größe und Stärke ebenso wie auf geistige und gesellschaftliche Bereiche wie Intelligenz, Begabung, Erfolg oder soziale Beliebtheit und Anerkennung. Eindeutig benachteiligte Geschwister durchlaufen in der Regel ein Stadium starker Ambivalenz, bevor es zum Durchbruch destruktiver Gefühle kommt. Einerseits sind sie selbst fasziniert und hängen in bewundernder Liebe an dem idealisierten Geschwister, andererseits wächst ihre Wut in dem Maße, wie sich dieses in seinen Vorzügen sonnt.
Eine besonders tragische Variante hat Shakespeare in seinem Schauspiel »Die Tragödie von König Richard III.« gestaltet, indem er die Bedeutung einer körperlichen Behinderung als Wurzel für rasendes Machtstreben, für Intrige, Hinterlist und schließlich für den Brudermord ins Zentrum dieses psychologischen Beziehungsdramas stellt. Bereits im Eingangsmonolog wird das Motiv für Richards vernichtenden Hass auf seinen Bruder George, Herzog von Clarence, aus seinem Schicksal als körperliche Missgestalt abgeleitet.
Richard, Herzog von Gloucester:
Ich, um dies schöne Ebenmaß verkürzt,
Von der Natur um Bildung falsch betrogen,
Entstellt, verwahrlost, vor der Zeit gesandt
In diese Welt des Atmens, halb kaum fertig
Gemacht, und zwar so lahm und ungeziemend,
Dass Hunde bellen, hink’ ich wo vorbei;
…
Und darum, weil ich nicht als ein Verliebter
Kann kürzen diese fein beredten Tage,
Bin ich gewillt ein Bösewicht zu werden,
Und Feind den eitlen Freuden dieser Tage.
Anschläge macht’ ich, schlimme Einleitungen,
Durch trunkne Weissagungen, Schriften, Träume,
Um meinen Bruder Clarence und den König
In Todfeindschaft einander zu verhetzen. 37
Da seine körperliche Missgestalt ihn von der Liebe ausschließt, greift Richard als der jüngste Bruder nach der königlichen Macht, indem er seinen
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