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Geschwister - Liebe und Rivalitaet

Geschwister - Liebe und Rivalitaet

Titel: Geschwister - Liebe und Rivalitaet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst Petri
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umbringen.«
    Eine ergreifende Wende nimmt der Film, als sich die strukturelle Ungeborgenheit langsam auflöst und in strukturelle Geborgenheit verwandelt. Was der Mutter in ihrem zerstörten Milieu nicht mehr gelang, baut Antonio schrittweise wieder auf, indem er den Kindern Vertrauen schenkt, ihre Bosheit besänftigt, ihr inneres Chaos beruhigt, indem er sie aus der Unwirtlichkeit der Vorstadt befreit und durch heile Natur begleitet, indem er für ihre Rechte kämpft und ihnen vermittelt, dass er sie nie aufgeben wird. Mit diesen Erfahrungen überwinden die Geschwister die Hindernisse, die sie trennen. Sie finden zu wechselseitiger Anteilnahme, Fürsorge und Mit-Leid zurück und damit zu dem, was sie verloren hatten – ihrer Geschwisterliebe.
    Dass der Film nicht nur eine poetische Vision ausmalt, wurde mir unlängst während einer Supervisionssitzung in einer psychiatrischen Klinik deutlich. Das Stationsteam berichteteüber eine 2 6-jährige Spanierin, die vor zwei Jahren nach Deutschland gekommen war. Durch ihre Drogensucht hatte sie jeden sozialen Halt verloren; sie hatte keine Berufsausbildung, wohnte in einem Obdachlosenheim und hielt sich mit Prostitution über Wasser. Die Klinik war ratlos, wie man der Patientin helfen könne, alle Pläne erschienen wenig erfolgversprechend.
    Dem Team war aufgefallen, wie häufig die Frau von ihrer vier Jahre jüngeren Schwester sprach, konnte mit dieser Tatsache aber wenig anfangen, zumal daraus keine therapeutischen Perspektiven ableitbar schienen. In der Supervision ließ sich nun folgender realer und psychologischer Hintergrund klären: In der Pubertätszeit hatten beide Schwestern die Mutter verlassen, nachdem sie deren Alkoholismus und Prostitution nicht mehr ertrugen; der Vater war ihnen nicht bekannt. Sie zogen aus der Provinz in die Großstadt, erlitten dort aber das gleiche Schicksal wie die Mutter. Die Patientin war während der letzten Wochen ihres Klinikaufenthaltes von der Idee erfüllt, ihre Schwester in Spanien wiederzufinden, deren jetzigen Wohnort sie nicht mehr kannte. Sie wollte ihr zu einer Therapie ihrer Heroinsucht verhelfen, um sich erst anschließend um ihren eigenen Entzug zu kümmern. In der Teamdiskussion ließ sich der Sinn dieser scheinbar paradoxen Absicht klären: Die strukturelle Ungeborgenheit, in der beide Schwestern groß geworden waren, hatte auch ihre Geschwisterliebe zerbrochen. Die ältere Schwester hatte die jüngere nicht vor ihrem eigenen Schicksal bewahrt, sondern sie sogar, wenn auch unabsichtlich, in die Drogensucht und Prostitution mit hineingezogen. In den Monaten ihres Klinikaufenthaltes hatte sie offenbar eine strukturelle Geborgenheit erfahren, die sie vorher noch nicht erlebt hatte: Viele Therapeuten bemühten sich um sie im Gespräch, in der Gestaltungs-, Ergo- und Musiktherapie und in der ärztlichen und fürsorgerischen Betreuung. Sie lebte, gut versorgt, im Schutz der Klinik, und das gesamte Team war dersympathischen Patientin emotional zugetan. In dieser Situation wurden die Gedanken an die Schwester aus folgenden Gründen vorherrschend: Die Schwester war das einzige Mitglied der Familie, zu dem früher ein positiver Gefühlskontakt bestanden hatte. Daher blieb sie als gutes inneres Objekt weiter in der Patientin präsent. Entsprechend ausgeprägt mussten ihre Schuldgefühle sein, weil sie die Schwester nicht gerettet, sondern im Gegenteil mit in das Chaos gezogen hatte. Dies bedeutete einen schweren Verrat an ihren Loyalitätsverpflichtungen als ältere Schwester. Die Sehnsucht nach der jüngeren Schwester und ihr Wunsch, ihr zu einer Therapie zu verhelfen, entsprangen also einem starken Wiedergutmachungswunsch, den sie erfüllen musste, bevor sie sich selbst heilen durfte. Die Erfahrung der strukturellen Geborgenheit in der Klinik hatte die Patientin offenbar so weit stabilisiert, dass sie ihre bisher verdrängten Schuldgefühle und ihre Wiedergutmachungsschuld zulassen konnte. Ganz gesund konnte sie erst werden, wenn sie ihre Sühne geleistet und sich mit der Schwester versöhnt hatte.
    Erst nach Aufklärung dieser Hintergründe in der Teamrunde wurde erkennbar, wie lebensnotwendig, ja wie lebensrettend beide Schwestern füreinander waren, wenn man ihre hinter der Sucht verborgenen Selbstzerstörungstendenzen berücksichtigte. Danach ließen sich auch die nächsten Therapieschritte klarer umreißen. Die Idee der Patientin, ihre Schwester wiederfinden zu müssen, wurde in ihrer Tragweite erkannt und sollte mit allen

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