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Geschwister - Liebe und Rivalitaet

Geschwister - Liebe und Rivalitaet

Titel: Geschwister - Liebe und Rivalitaet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst Petri
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Rivalität, erscheinen mir häufig mehr wie sekundäre Abkömmlinge der vorgenannten ursprünglichen Gefühle, mit denen sich der Einzelne gegen Unrecht und Verrat wehrt. Man istneidisch und eifersüchtig, man rivalisiert, weil, tiefer als die Erfahrung der Benachteiligung, die Ungerechtigkeit als fundamentale Verletzung von Menschenrecht erlebt wird.
    Bezeichnenderweise sind Zweiäuglein und Aschenputtel völlig frei von solchen sekundären Gefühlen wie Neid, Eifersucht und Rivalität. Sie »wissen«, dass die Verletzung des Gerechtigkeitssinns nach einem Ausgleich verlangt. Das Märchen erfindet viele hilfreiche Engel in Form von Wunderbäumen, Vögeln, Feen und klugen Prinzen, um den Sieg der Gerechtigkeit vorzubereiten.
    Das im Märchen vertretene Prinzip der ausgleichenden Gerechtigkeit ist aber nicht nur ein abstraktes Ideal. Die in ihm enthaltene Weisheit zielt auf die konkrete Erfahrung, dass das Leben von sich aus auf Ausgleich bedacht ist. Wenn man sich Lebensverläufe von Geschwistern genauer ansieht und dabei einen Blick hinter die äußere Fassade wirft, wird man in der Regel finden, dass bei allen Geschwistern Niederlagen mit Erfolgen, Leiden mit Glück, Geschwisterhass mit Geschwisterliebe abwechseln. »Zweiäuglein lebte lange Zeit vergnügt. Einmal kamen zwei arme Frauen zu ihm auf das Schloss und baten um ein Almosen. Da sah ihnen Zweiäuglein ins Gesicht und erkannte ihre Schwestern Einäuglein und Dreiäuglein, die so in Armut geraten waren, dass sie umherziehen und vor den Türen ihr Brot suchen mussten. Zweiäuglein aber hieß sie willkommen und tat ihnen Gutes und pflegte sie, also dass die beiden von Herzen bereuten, was sie ihrer Schwester in der Jugend Böses angetan hatten.«
    Es gibt Ausgleich, Wandlung und Veränderung, die alte Wunden ausheilen lassen. Man muss nur verstehen, wie es dazu kommen konnte.

12.   Geschwisterkonflikte in Jugend, Adoleszenz und frühem Erwachsenenalter
    Der Film »Gestohlene Kinder« beginnt in einem heruntergekommenen Satellitenvorort einer italienischen Großstadt. Luciano, ein zehnjähriger, kontaktloser und verschlossener Junge, wird von der Mutter immer dann aus der ärmlichen Ein-Zimmer-Wohnung auf die Straße geschickt, wenn seine zwölfjährige Schwester Rosetta Männerbesuch empfangen muss. Eines Tages greift die Behörde ein und schickt die beiden Kinder in Begleitung des Carabinieri Antonio in ein weit entferntes Heim. 36
    Der preisgekrönte Film greift ein Thema auf, das ich in der Literatur über Geschwisterbeziehungen an keiner Stelle gefunden habe: die Zerstörung der Geschwisterliebe durch gesellschaftlich-strukturelle Gewalt. Armut, Arbeitslosigkeit, Wohnraumnot, Obdachlosigkeit, Hunger, Krankheit, Vertreibung, Verfolgung, Kriege und Tod als gesellschaftlich verursachte Einflüsse auf die Befindlichkeit von Familien und auf die psychosoziale Entwicklung von Kindern waren von den Anfängen der Geschichte bis zur Gegenwart noch nie lediglich Randphänomene kultureller Gemeinschaften, als die sie oft behandelt werden. Sie gehörten schon immer zur alltäglichen Realität größerer Bevölkerungsschichten.
    Für die betroffenen Kinder produzieren sie einen Zustand, der sich als strukturelle Ungeborgenheit definieren lässt. Ihr Gegenteil, die strukturelle Geborgenheit, umfasst ein Ensemble familiärer und gesellschaftlicher Voraussetzungen, in denen Gerechtigkeit, Ausgleich, Vertrauen und Hoffnung als lebensnotwendige und sinnstiftende Grundlagen menschlicher Entwicklung garantiert sind. Entsprechend bedingt strukturelleUngeborgenheit Ungerechtigkeit, Disharmonie, Misstrauen und Hoffnungslosigkeit   – Zustände und Gefühle also, die in ihrer Konflikthaftigkeit den Boden für seelische Erkrankungen, Gewalt und Feindschaft bereiten. Strukturelle Ungeborgenheit als gesellschaftlich verursachtes und zu verantwortendes Unglück ist mit der Verletzung elementarer Grundrechte verbunden.
    Luciano und Rosetta vertreten exemplarisch das Schicksal von Geschwistern, die Opfer struktureller Ungeborgenheit geworden sind. Sie fühlen sich elend, weil sie das erlittene Elend verinnerlicht haben; ihre destruktiven Erfahrungen werden innerlich zu Gefühlen von Depression, Neid, Misstrauen und Hass verwandelt, von denen die Geschwisterbeziehung nicht verschont bleibt. Auf der langen Reise mit Antonio streiten die Geschwister ständig miteinander, missachten und prügeln sich und liegen in einem Krieg, von dem Rosetta sagt: »Eines Tages wird mich mein Bruder

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