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Geschwister - Liebe und Rivalitaet

Geschwister - Liebe und Rivalitaet

Titel: Geschwister - Liebe und Rivalitaet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst Petri
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erzwungene menschliche Eigenschaft ist, die der Abwehr primär asozialer Antriebe dient. Nach diesem Modell wäre auch die Geschwisterliebe nur als eine Reaktionsbildung, eine Art Umkehrung,gegen den Geschwisterhass aufzufassen, oder in der Formulierung Freuds: »…   die zärtlichen wie die sozialen Identifizierungsgefühle entstehen als Reaktionsbildungen gegen die verdrängten Aggressionsimpulse.« 39
    Dieser Deutungsansatz von Freud wird allerdings durch seine dualistische Theorie über die zwei großen Widersacher im Menschen überholt, den Eros und die Destruktion. Liebe und Zerstörung sind die beiden autonomen Kräfte, deren Antinomie in einem lebenslangen Prozess versöhnt werden muss.
    Nach diesem dualistischen Prinzip erscheint es unlogisch, das Gefühl der Gerechtigkeit als sekundären Abkömmling des Destruktionstriebes und nicht als primären Anteil des Lebenstriebes aufzufassen.
    Dies holt Fromm nach, der sich ausführlicher als Freud mit dem Begriff der Gerechtigkeit beschäftigt hat und ihn aus einem gesellschaftlichen Entwicklungsprozess ableitet. Nach seiner Auffassung sind Gefühle wie Liebe, Gerechtigkeit, Wahrheit, Freiheit und Gleichheit in der Charakterstruktur jedes Menschen verwurzelt. Sie wurden im Laufe der menschlichen Evolution erworben und bilden neben der biologischen Triebausstattung angeborene psychologische Wesensmerkmale. Die Verletzung dieser historisch gewachsenen und in der menschlichen Natur verankerten Bedürfnisse beziehungsweise ihre mangelnde Befriedigung führe zu gleichen Reaktionen wie die Frustrierung biologischer Antriebe. 40
    Die Ausformulierung von Fromms Gerechtigkeitsbegriff verdanken wir jedoch erst den bekannten amerikanischen Familienforschern Boszormenyi-Nagy und Spark. Die fundamentale Bedeutung des Begriffs sehen die Autoren in der Tatsache begründet, dass Gerechtigkeit einen generationenübergreifenden »ererbten« Bestandteil sozialer Systeme darstellt. Gerechtigkeit ist für sie das entscheidende und tief verwurzelte Gefühl, das menschliche Beziehungen reguliert und soziale Systeme inBalance hält. Immer dann, wenn diese Gefühle durch Ungerechtigkeit verletzt werden, entstehen Racheimpulse und Vergeltungsaggressionen, um das System mit Gewalt auf seine Loyalitätsverpflichtungen und Gerechtigkeitsforderungen einzuschwören.
    Im letzten Kapitel ist bereits deutlich geworden, wie wichtig das Konzept der »menschlichen Gerechtigkeitsordnung« für das Verständnis von Geschwisterbeziehungen ist. Geschwister bilden, wie wir sahen, ein Subsystem innerhalb des Gesamtsystems Familie. Insofern ist es naheliegend, die aus systemischer Sicht entwickelte Theorie über Gerechtigkeit von Boszormenyi-Nagy und Spark auf Geschwister zu übertragen. Dadurch wird noch deutlicher die Wechselwirkung erkennbar, die bei der Verletzung des Gerechtigkeitssinns zwischen dem System und seinen Mitgliedern besteht. So richtet sich beispielsweise die Bevorzugung eines Geschwisters und die dadurch bedingte Benachteiligung eines anderen gegen das Gerechtigkeitsgefüge des Geschwistersubsystems und gleichzeitig gegen den im Selbstgefühl verankerten Gerechtigkeitssinn des benachteiligten Geschwisters.
    In der Pubertät, Adoleszenz und im frühen Erwachsenenalter haben solche Verletzungen in der Regel nachhaltigere Folgen als in der Kindheit, weil die Betroffenen sich mit größerer Vehemenz gegen die Zerstörung des Gerechtigkeitsgefüges wehren. Deswegen spielen auch die berühmten Geschwisterdramen, wie sie die Literatur überliefert, jenseits des Kindesalters. Richard III. beschließt, »ein Bösewicht zu werden«, als ihm auch die entsprechenden Mittel dafür zur Verfügung stehen.
    Man kann nicht über Ungerechtigkeit in Geschwisterbeziehungen schreiben, ohne das bekannteste, in die Anfänge der abendländischen Kulturgeschichte zurückreichende Bruderdrama zu erwähnen, den Mord von Kain an Abel. Evas erstgeborenerSohn Kain war Ackermann; ihr zweiter Sohn Abel wurde Schäfer. »Es begab sich aber nach etlicher Zeit, dass Kain dem Herrn Opfer brachte von den Früchten des Feldes; und Abel brachte auch von den Erstlingen seiner Herde und von ihrem Fett. Und der Herr sah gnädiglich an Abel und sein Opfer; aber Kain und sein Opfer sah er nicht gnädiglich an. Da ergrimmte Kain sehr, und seine Gebärde verstellte sich   … Und es begab sich, als sie auf dem Felde waren, erhub sich Kain wider seinen Bruder Abel und schlug ihn tot.« 41
    Die Geschichte über das, nach biblischer

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