Geschwister - Liebe und Rivalitaet
Auffassung, erste Geschwisterpaar der Menschheit wird immer wieder als Nachweis der primär bösartigen Natur des Menschen zitiert. Dabei scheint sie etwas ganz anderes lehren zu wollen, die Dialektik von Recht und Unrecht. Ursprünglich scheinen die Brüder in ihrer Verschiedenartigkeit ein ideal funktionierendes, komplementäres System aus Ackerbau und Viehzucht gebildet zu haben, eine harmonische Einheit aus Sesshaftigkeit und Nomadentum. Erst Gott, als Symbolfigur des übermächtigen Vaters, zerstört das brüderliche Subsystem, indem er durch die Bevorzugung Abels das familiäre Gerechtigkeitsprinzip verletzt. Der Mord an dem Bruder steht als Metapher für die Intensität der Vergeltungsaggression, die durch den Umschlag der Gerechtigkeit in Ungerechtigkeit bewirkt wird.
Diese Dialektik zieht sich durch die gesamte Genesis des Alten Testamentes. So will Isaak seinem älteren Sohn Esau durch seinen Segen die Herrschaft über die anderen Söhne vererben. Seine Frau Rebekka stiftet daraufhin den zweiten Sohn Jakob gegen dessen Willen zum Betrug an seinem Vater und Bruder an, indem er sich, als Esau verkleidet, von Isaak segnen lässt. Esau beschließt deswegen, seinen Bruder zu töten. Aber die Dialektik von Recht und Unrecht wird in diesem Bruderkonflikt reifer gelöst als zwischen Kain und Abel. Jakob flieht im Bewusstsein seiner Schuld vor dem berechtigten Zorn desBruders. Nach langer Zeit des Getrenntseins begegnen sie sich wieder. Jakob zieht Esau mit einer großen Herde entgegen, um sie ihm als Wiedergutmachung zu schenken. Erst dadurch wird das Gerechtigkeitsgefüge wiederhergestellt. Der Widerspruch von Recht und Unrecht wird in der Versöhnung gelöst. Jakob »neigte sich siebenmal auf die Erde, bis er zu seinem Bruder kam, Esau aber lief ihm entgegen, und herzte ihn, und fiel ihm um den Hals, und küsste ihn; und sie weineten.« 42 Beide beschließen, an einem gemeinsamen Ort zu leben. Ihre Bruderliebe siegt über den fremdverschuldeten Hass und stellt das geschwisterliche Subsystem in seinen Regeln von Gleichheit und Gerechtigkeit wieder her.
Aber die Bibel ist große Literatur, sie ist psychologisch genau und lässt sich durch einen Glücksfall nicht täuschen. Jakob wird das tragische Opfer eines Mechanismus, den Freud als Wiederholungszwang beschrieben hat. Durch ihn bringt er das gleiche Leid über seine eigenen Kinder wie sein Vater Isaak über ihn und Esau. Jakobs Wiederholungszwang leitet die vielschichtigste und episch am breitesten angelegte Bibelgeschichte über Geschwisterbeziehungen ein – die Geschichte von Joseph und seinen Brüdern. »Israel (Jakob, H. P.) aber hatte Joseph lieber denn alle seine Kinder, darum dass er ihn im Alter gezeugt hatte; und er machte ihm einen bunten Rock. Da nun seine Brüder sahen, dass ihn ihr Vater lieber hatte denn alle seine Brüder, waren sie ihm feind und konnten ihm kein freundlich Wort zusprechen.« 43
Wie unter einem Zwang wiederholt Jakob den gleichen Fehler wie sein Vater, obwohl er selbst genügend unter dem Konflikt mit dem Bruder gelitten hat. Der tiefenpsychologische Sinn der Wiederholung liegt darin, dass er als der ursprünglich von seinem Vater Benachteiligte seinen geliebten Sohn Joseph als Favoriten auswählt, weil er durch die Identifizierung mit ihm nachträglich seinen Wunsch, selbst ein Lieblingssohn desVaters zu sein, erfüllen kann. Indem er die Erfüllung dieses Wunsches an Joseph delegiert, zerbricht auch er das familiäre Gerechtigkeitsgefüge. Bekanntlich rächen sich die Brüder auf grausame Weise. Nachdem sie ihren ursprünglichen Mordplan aufgegeben haben, verkaufen sie Joseph für teures Geld als Sklaven nach Ägypten. Joseph macht dort nach harten Entbehrungen zwar eine glänzende Karriere als Kämmerer des Pharao und errettet schließlich seine eigene Familie während der »sieben mageren Jahre« vor dem Hungertod; aber der Preis, den er für seine Rolle als Liebling des Vaters zahlen muss, ist sehr hoch. In seiner Bereitschaft, sich mit den Brüdern zu versöhnen, statt sich seinerseits zu rächen, wird seine lebenslange Sehnsucht nach familiärer Integration und Geschwisterliebe deutlich.
Ich habe die drei Bibelgeschichten zitiert, weil sie beispielhaft die komplexen Folgen aufzeigen, die die Verletzung des Gerechtigkeitsprinzips innerhalb eines Systems nach sich zieht. Das gängige Verständnis, wonach das bevorzugte Kind die besseren Karten für das weitere Leben gezogen hat, erfasst nicht die tiefen Gesetze von
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