Geschwister - Liebe und Rivalitaet
Bruder George als den rechtmäßigen Thronfolger umbringt. In äußerster Konsequenz hat Skakespeare in »Richard III.« ein Bruderdrama dargestellt, das sich allein aus der Ungleichheit der Anlagen entwickelt – aus einer von niemandem verschuldeten Ungerechtigkeit und ihrer tiefen Verletzung des eigenen Selbst-Gefühls. Mord und Totschlag werden hier nur zu Chiffren der Vergeltung und des Hasses, die aus einem solchen Schicksal geboren werden.
Es scheint mir nicht zufällig, dass Shakespeare in seinem Schauspiel die körperliche Benachteiligung als Wurzel für geschwisterliche Zwietracht entdeckt und nicht stärkere Unterschiede in der Intelligenz und Begabung. Auch sie belasten natürlich jede Geschwisterbeziehung und sind Anlass für Missgunst und Feindschaft. Aber Merkmale äußerer Attraktivitätscheinen für die Regulation des narzisstischen Gleichgewichts oft ungleich wichtiger zu sein, weil sie in starkem Maße die Reaktionen der Umwelt mitbestimmen. Schönheit befriedigt ästhetische Bedürfnisse und wird deswegen mit hohen Gratifikationen belohnt, während beim Anblick von Hässlichkeit selbst die »Hunde bellen«. Dagegen lassen sich intellektuelle und Begabungsunterschiede besser kompensieren und ausgleichen. Jedes Geschwister kann hierbei den ihm gemäßen Weg suchen, seine individuellen Möglichkeiten optimal zu nutzen und darin die notwendige Befriedigung zu finden. Wenn ein Geschwister dank seiner Anlagen ein Gelehrter oder Künstler wird und das andere Kaufmann oder Handwerker, ist, gemessen am Verlauf des Lebens und an der Summe erfahrenen Glücks, keineswegs gesichert, wer von beiden die besseren Karten gezogen hat.
Betrachtet man die drei bisher geschilderten Bereiche, die zur Ursache destruktiver Geschwisterrivalität werden können, noch einmal zusammenfassend – die Beziehungspathologie im Eltern-Kind-Verhältnis, den gesellschaftlich-strukturellen Einfluss und die Unterschiede in den persönlichen Anlagen –, so trifft man auf folgenden gemeinsamen Nenner: die Ungerechtigkeit, die ungerechte Verteilung von Chancen und die Benachteiligung im lebensgeschichtlichen Zusammenhang. Die Begriffe sind zwar im Verlauf der bisherigen Darstellung bereits des Öfteren aufgetaucht; an dieser Stelle scheint mir aber wegen ihrer grundsätzlichen Bedeutung für das Verständnis von Geschwisterproblemen wie auch anderer zwischenmenschlicher Konflikte eine Vertiefung notwendig. Dabei lautet die Kardinalfrage: Warum führt die Verletzung des Gerechtigkeits- und Gleichheitsprinzips zu so destruktiven Gefühlen, dass durch sie die Geschwisterliebe und andere menschliche Beziehungen und ganze soziale Gemeinschaften zerstört werden können? Aus Letzteren ist uns die Forderung nach Gleichheitund Gerechtigkeit am geläufigsten, wie sie als unveräußerbares Menschenrecht im Rahmen von sozialen Revolutionen formuliert wird. Aber auch der Einzelne kämpft »erbittert« um sein Recht, wenn es bedroht wird. Es muss sich also beim Gerechtigkeitsgefühl um ein fundamentales Bedürfnis handeln, das es zu verstehen gilt.
Der große Menschenkenner Freud hat sich erstaunlicherweise nur in einigen Sätzen zum Begriff der Gerechtigkeit geäußert. Nach allen bisherigen Überlegungen sind wir nicht sonderlich überrascht, dass er die Wurzel des Gerechtigkeitssinns in der Geschwisterbeziehung vermutet. Das ältere Kind wolle das nachkommende aus Eifersucht verdrängen, müsse aber auf seine feindlichen Gefühle verzichten, um die Liebe der Eltern nicht zu verlieren. Aus diesen Abwehrreaktionen, so Freud, entwickele sich unter den Geschwistern und später im Kindergarten und in der Schule unter den Kindern ein Gemeinschaftsgefühl, dessen erste Forderung zur Eindämmung des Neides die nach Gerechtigkeit und nach gleicher Behandlung für alle laute. »Soziale Gerechtigkeit will bedeuten, dass man sich selbst vieles versagt, damit auch die anderen darauf verzichten müssen oder, was dasselbe ist, es nicht fordern können. Diese Gleichheitsforderung ist die Wurzel des sozialen Gewissens und des Pflichtgefühls.« 38
Also steht doch am Anfang aller sozialen Ordnung der Neid und die Eifersucht auf die Geschwister, und der Gerechtigkeitssinn ist lediglich eine Reaktionsbildung, das heißt eine Abwehr, gegen diese destruktiven Gefühle? Diese Deutung entspricht der allgemeinen psychoanalytischen Auffassung, dass die soziale Funktion des Ich, die soziale Verantwortung, keine ursprüngliche, sondern eine im Kulturprozess
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